1991 - Neujahrsansprache von Bundespräsident Flavio Cotti

1. Januar 1991 - Es gilt das gesprochene Wort

Ich wünsche Ihnen von Herzen alles Gute zum Neuen Jahr. Ich wünsche Ihnen Gesundheit, vor allem jenen unter Ihnen, die krank sind. Ich wünsche Ihnen Wohlergehen, besonders denen, die Not leiden. Ich denke heute auch an alle, die in seelischer Bedrängnis sind oder sich von ihren Mitmenschen verlassen und sich einsam fühlen. Ihnen wünsche ich Kraft, Mut und Zuversicht.

Ich Wünsche Glück den älteren Mitbürgerinnen und Mitbürgern, die mir zuhören, und danke ihnen für alles, was sie uns gegeben haben und weiterhin geben. Und ich wünsche Glück unserer Jugend, auf die ich mit Freude und voller Vertrauen blicke.

In einem Wort, ich wünsche allen ein glückliches und gesegnetes Neues Jahr. Die Wünsche, die jeder und jedem von Ihnen, ob Sie Schweizer oder Gast der Schweiz sind, richte, sind ehrlich und kommen von Herzen. Ich danke allen, welche diese Gefühle ebenso herzlich erwidern.

Doch, so ehrlich sie auch gemeint sind, und so gross auch das Vertrauen ist, das wir einander entgegenbringen, so sind wir uns doch eines bewusst: Nicht für jede und jeden von uns werden diese Wünsche in Erfüllung gehen. Sicher ist, dass auch in unserem Land, das zu den reichsten der Welt gehört und in dem der Wohlstand weit verbreitet und die soziale Sicherheit gewährleistet ist, 1991 materielle und seelische Not, Schmerz und Bedrückung, Krankheit und Tod nicht erspart bleiben werden. Für einige unter uns werden sich die Neujahrswünsche also nicht verwirklichen. Ungewiss sind nur die Namen der Empfänger der wirkungslosen Wünsche.

Wäre es darum nicht sinnvoll, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, in diesen ersten Stunden des Neuen Jahres einen Moment innezuhalten und uns auf uns selbst und unser Schicksal zu besinnen? Das Jahr 1991, in dem wir das siebenhundertjährige Bestehen der Eidgenossenschaft feiern, wird uns unzählige Möglichkeiten bieten, über unsere Institutionen, über unsere Politik und über unsere Gesellschaft nachzudenken und zu diskutieren... Wäre dies nicht der Moment, uns selbst ins Angesicht zu sehen und in uns selbst, neben Vorzügen und Grossmütigkeit, auch unsere Unsicherheiten, unsere Grenzen, unsere Widersprüche und Schwächen wieder zu entdecken, die wir so gerne bei anderen zu erkennen glauben, oder (weil es leichter fällt) den unpersönlichen Strukturen oder der Gesellschaft, diesem schwer fassbaren Gebilde, anlasten?

Es wäre wirklich ein glücklicher Neujahresbeginn. wenn uns diese Selbstbesinnung gelänge wenn wir uns der Vorläufigkeit und Verletzlichkeit unserer Existenz die wir gerne als dauerhaft erhoffen, weder bewusst würden. Wir würden die Toleranz wieder entdecken, wenn wir unsere Überzeugungen mit den ebenso achtbaren Überzeugungen der anderen vergleichen würden, und die Solidarität wenn wir uns bewusst würden, in welch unverhältnismässig grossem Reichtum wir im Vergleich zu Milliarden von anderen Menschen leben. Wir würden entdecken, dass wir selbst Teil der Natur sind, genauso wie die Blume, die im Frühling aufblüht und die Schwalbe, die im Herbst sich nach Süden lenkt, und dass wir deshalb diese Natur nicht selbstherrlich verletzen und ausbeuten dürfen. Und wieviele andere Dinge könnten wir auf dieser Wanderung durch uns selbst noch entdecken?

Zu dieser Wanderung durch uns selbst lade ich mich selber und Sie alle, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, herzlich ein.

Diese Wanderung ist jedem möglich, der sich darum bemüht. Sie ist ausserordentlich wichtig, und zwar nicht nur in persönlicher, sondern auch in gesellschaftlicher Hinsicht. Sie wird uns auch den kritischen Weg durch die Schweiz den wir im Jubiläumsjahr gemeinsam gehen werden, leichter machen und uns erlauben, ihn ehrlicher aufrichtiger und frei von Leidenschaften zu gestalten. Dieser Weg der kritischen Auseinandersetzung soll uns mit den Schwächen unseres Landes konfrontieren; er soll uns aber auch seine Würde zeigen, den Wert seiner Institutionen, die Form des Zusammenlebens, die sich Im Lauf der Jahrhunderte herausgebildet hat, und seine Stellung in Europa und in der Welt.

Wanderung durch uns selbst, aber auch Weg nach aussen. Beides verbunden mit dem kritischen Geist, der auf unserer Erde nur dem Menschen gegeben ist. Sollten wir auf dieser Reise, wie der Dichter Dante im Dunkel des Waldes den geraden Weg aus den Augen verlieren, so mögen uns dieser selbstkritische Geist und die Hilfe, die von oben kommt, wieder hinaus in die Weite und Klarheit des Tages zurückführen.

Liebe Mitbürgerinnen und liebe Mitbürger: Alles Gute zum Neuen Jahr!

Letzte Änderung 01.12.2015

Zum Seitenanfang

https://www.admin.ch/content/gov/de/start/dokumentation/reden/neujahrsansprachen/1991.html