1990 - Neujahrsansprache von Bundespräsident Arnold Koller

1. Januar 1990 - Es gilt das gesprochene Wort

Für das neue Jahr wünsche ich Ihnen und Ihren Familien alles Gute, Gesundheit und Gottes Segen. Den meisten von uns geht es glücklicherweise gut. Wir wollen aber auch an jene denken, die im Schatten stehen: die Kranken, Gebrechlichen, Benachteiligten in unserem Land, die Verfolgten, Entrechteten, Hungernden im Ausland. Bleiben wir uns bewusst: menschliche Gemeinschaften sind immer nur so stark wie ihre Bereitschaft, Schwächeren beizustehen. Sie grüsse ich ganz besonders.

Mit dem heutigen Tag treten wir in ein neues Jahrzehnt ein. Es ist das letzte dieses Jahrhunderts und dieses Jahrtausends. Vielleicht spüren wir auch deshalb die Schubkraft der Veränderungen so sehr. Bisher Unvorstellbares hat sich ereignet: der Eiserne Vorhang zerriss; festzementierte Systeme brechen auseinander. Der menschliche Drang nach Freiheit und Demokratie überspült sie alle. Wie treffend klingt da des Philosophen Wort: Des Menschen Fähigkeit zur Gerechtigkeit macht Demokratie möglich, des Menschen Neigung zur Ungerechtigkeit macht Demokratie nötig.

Freiheit und Demokratie müssen wir auch bei uns immer wieder gestalten - nach innen wie nach aussen. Unser Land gründet in einer dauerhaften und zukunftsgerechten Lebensordnung. Sie wollen wir erhalten. Die Vitalität unseres Staates und unserer Gesellschaft bemisst sich aber vor allem danach, wie weit wir aus unserer Freiheit Sinn gewinnen und Gerechtigkeit üben.

Da dies leider nicht allen gelingt, stellen sich uns schwierige Aufgaben. So wächst die Zahl derer, die auf unsere Hilfe angewiesen sind. Denken wir nur daran, wieviele Menschen den heutigen Suchtgefahren erliegen. Diesen Problemen müssen wir uns vermehrt zuwenden.

Das Flüchtlingsproblem stellt Belastungsproben, die wir gemeinsam meistern müssen. Unser humanitärer Auftrag weckt angesichts der internationalen Wanderungen Ängste. Aus einer kleinmütigen, abwehrenden Haltung heraus lösen wir aber keine Probleme. Die Grenze zwischen Gut und Böse verläuft nicht zwischen Staaten, auch nicht zwischen Menschen; sie führt mitten durch unsere Herzen. Wenn jeder nur an sich denkt, ist nicht an alle gedacht.

Ohne Vertrauen lässt sich in einem Staat auf Dauer nicht zusammenleben. Mit Vertrauen auf unsere eigene Stärke und unsere Berufung müssen wir uns auch den europäischen Herausforderungen stellen. Trotz Eintreten auf Verhandlungen über den Europäischen Wirtschaftsraum ist das künftige Verhältnis unseres Landes zur Europäischen Gemeinschaft noch nicht absehbar. Absehbar aber ist, dass eine blosse Politik des Abseitsstehens die schweizerische Identität und Eigenständigkeit längerfristig eher bedroht als bewahrt.

Das haben die Kantone schon im letzten Jahrhundert erkannt, als sie sich zu einem neuen Staat, der heutigen Eidgenossenschaft, zusammenschlossen und zugleich für die Erhaltung grösstmöglicher Eigenständigkeit der Kantone sorgten.

Es ist gerade auch diese schweizerische Erfahrung, die uns die europäischen Herausforderungen mit Zuversicht und Vertrauen annehmen lässt.

Wir leben in einer faszinierenden und beunruhigenden Zeit zugleich. Die Sicherheit dauerhaften Verweilens gibt es derzeit nicht. Entschlossen und gelassen wollen wir uns deshalb rechtzeitig den Aufgaben der Gegenwart und Zukunft stellen, damit wir unseren Staat nicht plötzlich in einem Sturm um bauen müssen. In diesem Sinne wünsche ich uns allen ein gutes neues Jahr.

Letzte Änderung 01.12.2015

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