1987 - Neujahrsansprache von Bundespräsident Pierre Aubert

1. Januar 1987 - Es gilt das gesprochene Wort

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

Beim Jahreswechsel, beim Übergang von einem Jahr zum andern, scheint die Zeit für einen Augenblick stillzustehen. Und auch wir halten, wie gebannt, einen Moment lang inne. Wir sammeln uns, überdenken das, was wir getan haben, versuchen zu sehen, wo wir stehen, und entschliessen uns vielleicht, etwas Neues zu beginnen.

Diesen Moment der Besinnung wünsche ich Ihnen allen, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, wo immer Sie sich auch befinden, in der Schweiz oder anderswo in der Welt. In dieser Stunde denke ich vor allem an die Benachteiligten unter uns: an die Kranken, die Behinderten und die Betagten, an jene, die körperlichen oder seelischen Schmerzen ausgesetzt oder in ihrer Freiheit eingeschränkt sind. Ich denke aber auch an die Jugend, die sich Sorgen macht über ihre Zukunft, von der sie nicht weiss, wie sie aussehen wird; eine Jugend, die von unserer Gesellschaft eine Ausbildung erwartet, die sie auf die Realitäten der künftigen Arbeitswelt vorbereitet. Weiter denke ich an all jene, die keine Arbeit haben, die vom technischen Fortschritt und von der Entwicklung unserer Wirtschaft auf die Seite geschoben worden sind. Schliesslich bin ich in Gedanken auch bei denen unter uns, die in Trauer sind, weil sie einen geliebten Menschen verloren haben, und bei jenen, die mutlos sind, weil sie unüberwindliche Schwierigkeiten vor sich sehen.

Unserem Land wünsche ich, dass das Jahr 1987 besser wird als das vergangene. Auf internationaler Ebene beunruhigen uns die Schwierigkeiten der beiden Supermächte, den Dialog zu finden. Anlass zur Besorgnis gibt uns aber auch die Lage in Südafrika, in Afghanistan, in Lateinamerika, im mittleren Osten und in Südostasien. In bewaffneten Auseinandersetzungen verlieren weiterhin Tausende unschuldiger Menschen ihr Leben, und in andern Ländern werden fast ebenso viele von einem totalitären Regime gefangen gehalten. Uns beschäftigt auch die Tragödie der unterentwickelten Völker, die uns trotz der Anstrengungen der Staatengemeinschaft immer vor Augen steht mit ihrem erschütternden, stummen Zug unschuldiger Opfer: Männer, Frauen und Kinder.

In der Schweiz ist uns solche Not mehr oder weniger erspart geblieben. Es haben sich aber bei uns Dinge ereignet, die dem Ruf unseres Landes schaden können. Ich denke hier an gewisse Finanzaffären oder an die dramatische Verschmutzung des Rheins. Es wäre jedoch falsch, ja gefährlich, uns in falscher Sicherheit zu wiegen oder in einen ungesunden Pessimismus zu verfallen. Ganz im Gegenteil, wir müssen uns den Herausforderungen stellen, wir müssen alle aktiv dazu beitragen, die Situation im Jahre 1987 zu verbessern. Und wenn ich sage wir, so meine ich zuallererst unsere Behörden im Bund, in den Kantonen und in den Gemeinden. Ich bin überzeugt, dass sie bereit sind, sich voll und ganz in diesem Sinne einzusetzen. Ich meine aber auch die Sozialpartner, die - zum Wohle aller - zur Zusammenarbeit Hand bieten. Aber ich denke auch an Euch, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, die Ihr durch Eure Arbeit, Euren Einsatz und die Beziehungen, die Ihr pflegt, die Glieder der Kette verstärken, die unsere Gesellschaft ein und zusammenhält.

Lassen Sie mich noch etwas sagen zu den mitmenschlichen Beziehungen, zu den Beziehungen zwischen den Geschlechter, zwischen den Sprach- und Kulturgemeinschaften, zwischen Schweizern und Ausländern zwischen der Jugend und der übrigen Bevölkerung. Wir können uns heute nicht mehr mit den üblichen Aufrufen zur Toleranz begnügen. Was wir brauchen, ist eine neue Einstellung, ein neues Verhalten. Wir müssen die Mauer des Missverständnisses abbauen, die uns allzu oft von unsern nahen oder fernen Nachbarn trennt. Das heisst, wir müssen lernen, uns den Fremden gegenüber zu öffnen, denn es wird immer deutlicher, dass die Menschheit eine Schicksalsgemeinschaft ist und dass wir unser Leben gemeinsam mit Menschen gestalten müssen, die anders sind als wir. Vor kurzem waren es noch Volksgruppen romanischer, italienischer, deutscher und französischer Zunge, die in unserem Land zur Schicksalsgemeinschaft zusammengewachsen sind. Heute kommen die Menschen, die unser Schicksal mitformen, auch aus entfernteren Gebieten der Erde.

Dass wir uns der Kräfte, die wir in uns haben, besser bewusst werden, dass die Solidarität in- und ausserhalb unseres Landes wachse, dies wünsche ich Ihnen persönlich und im Namen des Bundesrates an diesem ersten Tag des Jahres.

Letzte Änderung 01.12.2015

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