1984 - Neujahrsansprache von Bundespräsident Leon Schlumpf

1. Januar 1984 - Es gilt das gesprochene Wort

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

Jahresende - Jahresanfang: hier treffen sich Erinnerungen und Erwartungen. Erinnerungen an ein Jahr, das Dankbarkeit verdient: weil uns schwere soziale und politische Prüfungen, kriegerische Ereignisse oder Wirtschaftskrisen erspart blieben. Erwartungen in das neue Jahr, dass uns Kraft und Segen zuteil werden, zu geniessen, was uns beschieden, und zu tragen, was uns auferlegt sein wird.

II

Liebe Landsleute, der Bundesrat kommt mit seinen Glückwünschen zu Euch in die Stube, in das Wohn- oder Krankenzimmer, an den Arbeitsplatz. Medien erleichtern die Information, erweitern unser Blickfeld, bereichern unser Wissen. Eines aber vermag keine Technologie: das Gespräch zu ersetzen, diese wertvollste Form der Kommunikation; das Gespräch als echten Meinungsaustausch, als Grundlage für Verständnis, Gemeinschaftssinn, Solidarität.

III

Gespräch, Verständnis, Solidarität; darauf fusst die Demokratie, unsere schweizerische mit ihren 3000 demokratischen Gemeinwesen ganz besonders. Darauf gründet das, was unserer Eidgenossenschaft ihr Gepräge gibt: die reiche Vielfalt in Sprache und Kultur, in Landschaft und Gesellschaft; diese Vielfalt, die von eigenständigen Minderheiten getragen wird, die im Föderalismus ihr Masskleid findet.

Gespräch, Verständnis, Solidarität gewährleisten unsere Vielfalt, schützen unsere Minderheiten, müssen zugleich aber auch zur nationalen Einheit führen. Denn diese Einheit ist der Hort der Vielfalt. Nur dank ihr, in der Gemeinschaft, ist auch der Schwache stark. Nur in der Demokratie und auf dem Boden des Rechtsstaates gilt nicht die Macht des Starken, da zählt jeder gleich. Kein einzelner, keine Gruppe, nur die Mehrheit entscheidet. Auf diese demokratische Ordnung stützt sich unsere Vielfalt in Einheit. Das unterscheidet Föderalismus von Partikularismus.

IV

Die umfassende Versorgung mit Gütern aller Art, wirtschaftliche Unabhängigkeit, Wohlstand und Wohlfahrt, sie bergen die Gefahr in sich, dass wir uns vom Nächsten und von der Gemeinschaft entfernen. Wir nehmen bereitwillig entgegen, was uns neuzeitliche Errungenschaften auf allen Gebieten zur Verfügung stellen, lehnen aber vielfach ab, was damit an Lasten oder gar Opfern verbunden sein kann. Aufwand und Ertrag des Fortschritts sind jedoch miteinander verknüpft, unteilbar. Solidarität gilt für beides, nicht wahlweise. Eigennutz darf nicht an ihre Stelle treten.

Nicht unkritische Verherrlichung, aber noch weniger blosse Negation und Verweigerung sind taugliche Ratgeber auf unserem Weg in die Zukunft. An uns liegt es, die Werke von Generationen zu gebrauchen, nicht zu missbrauchen, Geschaffenes sinnvoll zu nutzen und weiterzugestalten.

V

Unsere Eidgenossenschaft ist durch unseren Willen zur Einheit in der Vielfalt getragen und geprägt. Gespräch, Verständnis, Solidarität bleiben auch im neuen Jahr Tragsäulen, innerhalb unseres Staatswesens, zugleich auch weltweit, als Glied der Schicksalsgemeinschaft aller Menschen.

Vl

Liebe Landsleute, der Bundesrat schreitet mit Zuversicht in das neue Jahr. Er weiss sich mit Euch verbunden, was immer es bringen mag. Im Namen des Bundesrates wünsche ich Euch herzlich Glück und Gottes Segen. Mut und Zuversicht entbieten wir allen Leidenden und Leidtragenden, derer wir auch an diesem Tag besonders gedenken. Unsere aufrichtigen Glückwünsche gelten gleichermassen allen unseren Landsleuten im Ausland und allen Ausländern in der Schweiz. Meine herzlichen Wünsche begleiten Euch, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, in das neue Jahr.

Letzte Änderung 01.12.2015

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