1981 - Neujahrsansprache von Bundespräsident Kurt Furgler

1. Januar 1981 - Es gilt das gesprochene Wort

Meine lieben Landsleute in der Schweiz und im Ausland, liebe Ausländer in der Schweiz,

nach altem Brauch wünsche ich Euch für das neue Jahr Glück und Gottes Segen. Jeder einzelne, jede Familie ist in diesen Wünschen eingeschlossen. Ein besonderer Gruss gilt den Kranken. Seid zuversichtlich: die Kunst der Ärzte, die Hilfe aller, die Euch betreuen, und der eigene Wille, wieder gesund zu werden, sollen Genesung oder doch Linderung bringen. Ich denke an die Behinderten in unserem Land. 1981 ist ihr Jahr. Das kann nur heissen, dass wir die Behinderten im Alltag - in Wort und Tat - besser als bisher spüren lassen, wie sehr sie vollwertige Partner unserer Gemeinschaft sind. Nicht Mitleid, sondern gemeinsames Handeln bringt die Lösung. Ich begrüsse alle Einsamen, die manchmal an sich und ihrer Umwelt verzweifeln. Habt Mut und Zuversicht. Flüchtlinge sind unter uns. Noch an Weihnachten haben wir darüber nachgedacht, was es bedeutet, in der Herberge keinen Platz mehr zu finden. Mitmenschliche Hilfe gehört zum Wesen unserer Eidgenossenschaft. So freue ich mich, dass am heutigen Tag das neue, fortschrittliche Asylrecht in Kraft tritt. Ich wünsche allen, die ihre Heimat verlassen mussten und bei uns auf Zeit oder für immer Geborgenheit suchen, ein neues Leben in Freiheit, ohne Angst, Entbehrungen und Not, in ihrer Menschenwürde voll anerkannt.

Was bringt uns die Zukunft

Was bringt uns das Jahr 1981? Keiner von uns weiss es. Bekannt sind Bedrohungsmöglichkeiten von aussen, Versorgungsschwierigkeiten vor allem im Erdölbereich. Aber auch Spannungen im Innern, sei es zwischen den Generationen, sei es zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Selbst Terroranschläge erfordern unsere Wachsamkeit. Fest steht, dass alle Gefahren am besten gemeistert werden können, wenn wir zusammenhalten. Für uns Schweizer ist Freiheit etwas Selbstverständliches. Wir können uns kaum vorstellen, nicht zu sagen, was wir denken, nicht den Beruf zu wählen, den wir wollen. Das alles ist aber nicht selbstverständlich. Blicken wir in jene Länder, wo die Rechte der Bürger mit Füssen getreten werden, dann spüren wir, dass es sich lohnt, für Menschenwürde, Freiheit, Unabhängigkeit, soziale Gerechtigkeit, also für die Ziele des eidgenössischen Bundes, unsere ganze Kraft einzusetzen. Der soziale Friede, eines der höchsten Güter, die es zu wahren gilt, liegt uns besonders am Herzen. Dass uns viele um diesen sozialen Frieden und den damit verbundenen Wohlstand beneiden, soll uns nicht überheblich machen. Wohl aber in der Absicht bestärken, Schwächeren zu helfen und uns gemeinsam dafür einzusetzen, dass Vollbeschäftigung, Kaufkraft unseres Geldes und massvolle Preise auch in Zukunft Markenzeichen unserer Wirtschaftspolitik bleiben. Für das Glück des Menschen sind materielle Werte allein nicht ausreichend. In der heutigen Industriegesellschaft stellen manche plötzlich mit Schrecken fest, dass ihre psychische und physische Belastbarkeit schwindet und damit auch die Fähigkeit, mit Partnern gemeinsam Sorgen und Nöte durchzustehen. Viele fliehen vor sich selbst, weil sie sich nicht mehr ertragen und daher auch nicht mehr die Kraft finden, die Gemeinschaft zu bejahen. Resignation hilft nicht weiter. Helfen wir uns gegenseitig, Probleme anzupacken, auch schwierige. Nicht Selbstmitleid, sondern Einsicht und Mut zur Bewältigung der gestellten Aufgaben werden von uns erwartet

Die Schweiz und die Schweizer

Viele Schweizer haben nur noch eine lose Beziehung zu ihrer Heimat, obwohl doch Geschichte und Geographie etwas ganz anderes erwarten liessen. Wir sollten im Jahre 1981 die Distanz zu unserem eigenen Bundesstaat überwinden und zu einem neuen schweizerischen Selbstverständnis finden. Der Eidgenossenschaft wieder näherkommen. Sie dort erneuern, wo Reformen zum Wohle aller nötig sind. Ich denke insbesondere an die Neuverteilung der Aufgaben zwischen Bund und Kantonen und an die Neuordnung der Bundesfinanzen. Beides muss im Jahre 1981 gewagt werden. Die Geschichte wies uns ein kleines, aber wunderschönes Gebiet im Herzen Europas zu, reich gegliedert in Täler und Höhen. Tatkräftige Männer und Frauen haben diese massgeschneiderten Geländeabschnitte im Laufe der Jahrhunderte zu eigenen Kantonen entwickelt. So ist der gliedstaatliche Aufbau unseres Bundes schon in der Natur vorgezeichnet. Die Schweiz kann nie zentralistisch sein. Zu ihrem Wesen gehört der lebendige Föderalismus. Nicht ängstlich, sondern freudvoll soliden wir die unterschiedliche Lebensweise, Sprache, Religion und Kultur der Bevölkerungen aller Kantone als typisch schweizerisch bejahen, ja begrüssen. Diese Grundhaltung gehört zur Persönlichkeit des Schweizer Volkes; sie ist untrennbar verbunden mit dem föderalistischen Staatsgedanken. Vielleicht ist die Verschiedenartigkeit das, was uns zuerst in die Augen springt. Aber das zweite, die Einheit, die Überzeugung, Schweizer zu sein, ist heute noch wichtiger als früher, wenn wir uns gemeinsam behaupten und unseren Beitrag an die Völkergemeinschaft leisten wollen.

Mit diesem 1 .Januar beginnt für die Kantone Freiburg und Solothurn ein besonders freudiges Jahr: 500 Jahre sind verflossen, seit die acht Alten Orte an der Tagsatzung von Stans der Aufnahme der damaligen Stadtkantone Freiburg und Solothurn in den Bund zustimmten. «Die Tagsatzung drohte zu scheitern, und die siegreiche Eidgenossenschaft stand am Vorabend des Bürgerkriegs» (Walter Nigg). In letzter Stunde brachte eine Botschaft des Einsiedlers im Ranft Niklaus von der Flüe die rechthaberischen Haudegen zur Einsicht. Die acht Alten Orte schlossen erstmals ein gemeinsames Bündnis, das an Stelle der bisherigen Einzelbünde trat und die Einheit gewaltig stärkte. Durch die Aufnahme von Freiburg und Solothurn wurde der Bund der Eidgenossen ins Zweisprachige erweitert. Wir haben daher heute allen Grund, Volk und Behörden der eidgenössischen Stände Freiburg und Solothurn zu gratulieren und ihnen für die Zukunft Glück zu wünschen.

Unser Zusammenleben

Morgen beginnt der AlItag . Und damit auch die AlItagssorgen . Wir ertragen sie leichter, wenn wir einander zu verstehen suchen und uns helfen. Für das Zusammenleben der Generationen gibt es kein Patentrezept. Der Weg kann nur über das offene Gespräch zum gegenseitigen Verständnis führen. Neue Ideen sind willkommen. Die schweizerische Demokratie ist, wie die Geschichte lehrt, für sinnvolle Reformen immer offen. Gewalt hat in ihr keinen Platz.

Seien wir zuversichtlich: unser Kleinstaat im Herzen Europas hat Zukunft, wenn die in ihm lebenden Menschen von seiner Idee überzeugt bleiben.

 

Letzte Änderung 01.12.2015

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