1980 - Neujahrsansprache von Bundespräsident Georges-André Chevallaz

1. Januar 1980 - Es gilt das gesprochene Wort

Liebe Schweizerinnen und Schweizer im In- und Ausland, Liebe Gäste, die Ihr als Arbeitnehmer oder Besucher bei uns weilt.

Der Wechsel in ein neues Jahr ist für ein Unternehmen Anlass, Bilanz zu ziehen, zu sehen, was erreicht worden ist, für die Zukunft eine Prognose zu stellen und ein Aktionsprogramm zu erarbeiten. Diese Stunde des Nachdenkens gilt auch für die grosse Gemeinschaft, für die Eidgenossenschaft.

Die Wirtschaftsstatistiken und die internationalen Vergleiche weisen unserem Land einen günstigen, ja einen beneidenswerten und beneidenden Platz zu. Sicher befinden wir uns nicht mehr in einer Überexpansion wie vor zehn Jahren, aber nach dem brutalen Beschäftigungseinbruch von 1975 hat unsere Wirtschaft den Tritt wieder gefunden und befindet sich jetzt auf einem vernünftigen Kurs .

Aber diese nüchterne materielle Bilanz ist kein Anlass zum Übermut, gibt kein Recht auf genüssliche Selbstzufriedenheit. Der Index des Bruttosozialproduktes ist nicht der Index des Glücks, ein guter Geschäftsgang ist nicht gleichbedeutend mit gutem Gewissen.

Einerseits weil unsere Lage mit den im Ausland vorherrschenden, durch Unsicherheit und schwere Sorge gekennzeichneten Bedingungen eng verknüpft ist. Sie fordern von uns Anpassungsfähigkeit, Arbeitswille und Zusammenhalt innerhalb unserer Gemeinschaft.

Anderseits können uns Wohlstand und laufend ausgebaute Sozialwerke nicht über gewisse Grauzonen hinwegtäuschen. Einige Sektoren der Wirtschaft sind im Abschwung, Unternehmen in ungemütlichen Lagen, Familien in Schwierigkeiten. Es geziemt sich auch nach einem anhaltenden, teilweise stürmischen Wachstum, die entstandenen Schäden und Nachteile wahrzunehmen: Umweltverschmutzung, undisziplinierter Energieverbrauch .

Schliesslich verpflichtet unser Wohlstand neben den vielen manchmal grosszügigen Privataktionen ein stärkeres öffentliches Engagement gegenüber den leidenden und hungernden Menschen und jenen, die sich mühsam auf tiefem Entwicklungsstand selbst zu helfen suchen. Die Probleme, die wir im eigenen Bereich lösen und die von aussen auf uns zukommenden Schwierigkeiten, die wir bewältigen müssen, verlangen unseren vollen Einsatz und den vollen Zusammenhalt unserer Gemeinschaft.

Sind wir dazu bereit? Die Zeiten des Wohlstandes, des Wohlergehens und die Erfüllung vieler unserer Wünsche führten dazu, dass jeder seinen eigenen Weg gegangen ist. Wir alle glauben, die grösseren Interventionen der öffentlichen Hände dispensierten uns vom persönlichen Engagement, von einer vom Herzen kommenden Solidarität, vom Sinn, der Allgemeinheit zu dienen. Über die Ferien an der Costa Brava oder in den Südseeinseln wissen wir Bescheid. Wir kennen und verstehen uns aber ungenügend vom Toggenburg zum GrosdeVaud, vom Schwarzbubenland zum Mendrisiotto. Trotz, oder gerade wegen der wirtschaftlichen Stabilität wird die staatsbürgerliche Pflicht vernachlässigt. Von drei Stimmberechtigten geht im Durchschnitt noch einer an die Urne. Die Indifferenz hat die Alarmstufe überholt, sie stellt bereits die Glaubwürdigkeit unserer Demokratie in Frage.

Unsere Institutionen laufen wie geschmiert und brummen wie ein hochtouriger Motor. Aber die Indifferenz und Griesgrämigkeit der Bürger berauben sie langsam ihrer Daseinsberechtigung und ihrer inneren Kraft. Diese Kraft besteht im Willen des Bürgers, frei, unabhängig und verantwortlich zu sein. Diese Kraft bedeutet die Bejahung selbstbewusster Kantone und Gemeinden als Garanten der lebendigen, reichen Vielfältigkeit unseres Landes. Wir müssen unsere Verantwortung, unsere Solidarität, unsere Zusammengehörigkeit beweisen.

Gottfried Keller hat einmal geschrieben: «Keine Regierung und keine Bataillone vermögen Recht und Freiheit zu schützen, wo der Bürger nicht imstande ist, selber vor die Haustüre zu treten, und nachzusehen was es gibt.»

Ihnen allen, liebe Landsleute, Schweizer im Ausland Fremdarbeiter und Gäste, Kranke und Gesunde, Junge und Alte, Leidende, Bedrückte oder glücklich in der Familie Lebende, entbietet der Bundesrat seine herzlichen Glückwünsche, die auch den Arbeitslosen im Ausland, den von Krieg und Hunger Geplagten, Grund zu Hoffnung und Zuversicht verleihen mögen.

 

Letzte Änderung 01.12.2015

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