1974 - Neujahrsansprache von Bundespräsident Ernst Brugger

1. Januar 1974 - Es gilt das gesprochene Wort

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

Es entspricht alter Tradition, dass der neugewählte Bundespräsident am Neujahrstag dem Schweizervolk die Glückwünsche des Bundesrates für das kommende Jahr entbietet. Ich freue mich, dass ich dies sowohl im Namen meiner abtretenden als auch im Amte bleibenden Kollegen tun darf, aber auch im Namen der neuen, die ihr Amt voller Tatendrang im Laufe des Monats Januar antreten werden.

Es scheint mir, dass wir alle zusammen für 1974 etwas Glück, gute Vorsätze und Zuversicht brauchen können. Das vergangene Jahr hat uns Veränderungen, ja Erschütterungen gebracht, die darauf hinweisen, dass wir heute an einem Wendepunkt stehen. Wir haben eine beispiellose wirtschaftliche Entwicklung hinter uns: Das Bruttosozialprodukt wurde innert 25 Jahren verdreifacht, der Export verfünffacht und das durchschnittliche Realeinkommen mehr als verdoppelt. Ich weiss, dass viele unserer Zeitgenossen dieser Entwicklung nicht viel Gutes abzugewinnen vermögen. Allen Verächtern wirtschaftlicher Leistungen muss ich aber sagen, dass wir zur Vermeidung sozialer Spannungen auch in Zukunft alles tun müssen, um eine ertragreiche Wirtschaft aufrecht zu erhalten. Ohne gesicherte wirtschaftliche Grundlage wird es unmöglich sein, die gewaltigen Kosten der neuen AHV und der sogenannten 2. Säule zu verkraften und die hohen Kosten abzugelten, die uns aus dem verstärkten Umweltschutz, der Raumplanung, dem Ausbau des Bildungswesens, der Krankenversicherung und der Verkehrseinrichtungen erwachsen werden. Alle diese Lasten haben wir aus eigener Kraft zu tragen, und wir werden die hierzu nötigen Mittel vorerst einmal erarbeiten müssen, bevor wir sie ausgeben können.

Das wird nicht einfach sein, denn wir haben mehr und mehr Sand im Getriebe unserer Wirtschaft. Da ist einmal die internationale Währungskrise, die bis zum heutigen Tag noch nicht behoben werden konnte. Hinzu kommt die Inflation, die uns zum Teil von aussen her aufgezwungen wird und die wir zum andern Teil selber fabrizieren. Die Teuerung begünstigt die einen, benachteiligt die andern und schafft damit notgedrungen neue inflationäre Ansprüche, so dass es immer schwieriger wird, aus diesem Teufelskreis auszubrechen. Patentrezepte, wie die wilde Fahrt gestoppt werden könnte, gibt es keine. Die am 2. Dezember vom Schweizervolk verlängerten Massnahmen sind aber geeignet, wenigstens das Tempo zu bremsen. Ein Verzicht auf die Teuerungsbekämpfung wäre verhängnisvoll, das Aufkommen einer allgemeinen Inflationsmentalität noch verhängnisvoller; denn das würde bedeuten, dass wir bereit sind, auf Kosten unserer wirtschaftlichen Zukunft zu leben, wofür uns früher oder später die Rechnung präsentiert würde.

Und nun kommen noch die Schwierigkeiten mit der Erdölversorgung hinzu. Obwohl in diesem Zusammenhang manches unklar und undurchsichtig geblieben ist, wird man gut tun, sich langfristig auf die weltweite Verknappung der Energieversorgung einzustellen. Auch wenn nicht ganz auszuschliessen ist, dass sich die Lage wieder etwas beruhigen wird, so dürften die Zeiten des Überflusses und der Vergeudung doch endgültig vorbei sein. Sowohl von der Menge wie vom Preis her werden uns Schranken gesetzt, die sich nicht einfach übersteigen lassen. Die Entwicklung der letzten Monate haben uns aber auch gezeigt, wie stark wir von aussen abhängig sind. Das ist eine Feststellung, die nicht nur für das Erdöl gilt; denn auch andere Rohstoffe und vor allem auch gewisse Nahrungsmittel sind knapp und teuer geworden und belasten unsere Versorgung. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, wie richtig es war, auch in Zeiten des industriellen Aufstiegs eine leistungsfähige Landwirtschaft zu erhalten, die mit einem Bevölkerungsanteil von 7 Prozent imstande ist, uns wenigstens knapp zur Hälfte mit Produkten aus dem eigenen Boden zu beliefern.

Alle diese Verknappungen und Abhängigkeiten zeigen uns, was unter Grenzen des Wachstums, von dem in letzter Zeit so viel die Rede war, in concreto zu verstehen ist. Neben den uns von aussen aufgezwungenen Beschränkungen stossen wir ja auch im eigenen Lande zum Beispiel hinsichtlich Boden- und Umweltbelastungen immer mehr an die Grenzen unserer Möglichkeiten. Wir werden in Zukunft nicht mehr alles machen können, was an sich auch noch machbar wäre und einen Ertrag abwerfen würde. Wir werden auf manchen zivilisatorischen Fortschritt verzichten müssen, wenn er dafür einen zu hohen Preis bezahlen müssen. Wir werden dies übrigens auch im Interesse des Menschen tun müssen, dessen psychische Belastbarkeit auch Grenzen hat und dem das heutige hektische Tempo keineswegs nur zum Vorteil gereicht.

Wenn wir schon vom Menschen sprechen, so sei noch der Hinweis gestattet, dass jede Verringerung des wirtschaftlichen Wachstums grosse Anforderungen stellt. Denn jede Veränderung und jeder Verzicht schaffen Unruhe, tangieren unsere Lebens- und Arbeitsgewohnheiten, benötigen Urteilsfähigkeit und die Kraft zur Solidarität. Sind wir hierzu gerüstet? Ist nicht die Zahl der Egoisten, der Materialisten, der Gleichgültigen und Unverantwortlichen viel zu gross? Tatsächlich haben uns 20 Jahre Hochkonjunktur nicht gemeinschaftsfähiger gemacht. In der Verteidigung von Einzel- und Gruppeninteressen haben wir es zu einer bemerkenswerten Virtuosität gebracht. Wir protestieren und kämpfen verbissen gegen alles, was uns nicht in den eigenen Kram passt, und wir tun dies nicht selten gegen die eigene Vernunft und Einsicht. Anstatt in echter Weise zu diskutieren, den Argumenten des andern zuzuhören und realisierbare Lösungen zum Wohle des ganzen Landes zu suchen, vertreten wir oft sture Standpunkte und verteidigen harte Positionen. Das ist natürlich nicht die Haltung, mit der man schwierige Situationen meistern und grosse, gemeinschaftsbezogene Lösungen verwirklichen kann .

Wir werden viel hinzulernen müssen. Vor allem sollten wir wieder vermehrt das uns Verbindende sehen. Mit andern Worten: Wir werden näher zusammenrücken müssen. In dieser Meinung fühle ich mich einig mit Hunderttausenden von Männern und Frauen, denen die Sorge um die Zukunft unseres Landes und seiner Menschen erstes Anliegen ist und die trotz der Beschränktheit ihres persönlichen Einflusses nicht auf Wunder von aussen warten sondern gewillt sind, einen eigenen positiven Beitrag zu leisten. Menschen, die versuchen, anständig, objektiv, aufgeschlossen und tolerant zu sein. Darin liegt die sich immer wieder erneuernde Kraft unseres Volkes, die auch uns immer wieder den Mut gibt, mit neuer Zuversicht an die Lösung unserer nicht leichten Aufgabe heranzutreten.

In diesem Sinne, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, nachdem ich mir einige Sorgen vom Herzen gesprochen habe, wünsche ich Euch allen ein recht gutes neues Jahr. In meinen Neujahrswunsch schliesse ich auch die unter uns weilenden Ausländer ein, und einen besonderen Gruss entbiete ich unsern Landsleuten in aller Welt. Ganz besonders gedenke ich in dieser Stunde all jener, die krank oder gebrechlich sind oder aus andern Gründen des Trostes bedürfen. Tiefe Anerkennung gebührt aber auch all jenen, welche mit Aufopferung für die Pflege der Kranken und Schwachen besorgt sind.

Der Bundesrat wünscht Ihnen, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, ein frohes 1974!

Letzte Änderung 01.12.2015

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