1973 - Neujahrsansprache von Bundespräsident Roger Bonvin

1. Januar 1973 - Es gilt das gesprochene Wort

Im Leben jedes Einzelnen von uns gibt es Wendepunkte. Sie kennzeichnen einen neuen Lebensabschnitt, ein neues Beginnen, sei es im Beruf, in der Familie oder im sozialen Leben.

Die Wende vom alten zum neuen Jahr ist nicht unbedingt auch ein Wendepunkt in diesem Sinne. Und doch ist das Ende des Kalenderjahres und das Heraufziehen des ersten Tages im neuen Jahr ein Ereignis, das wir wohl zum Anlass einer kurzen Besinnung nehmen dürfen.

Wir alle haben im alten Jahr Freud und Leid erlebt. Wir haben sicher von Mitmenschen Gutes erfahren dürfen, und wir haben vielleicht im beruflichen Leben Erfolge erzielt. Doch wem wären Enttäuschungen erspart geblieben? Und wo ist die Familie, die nicht auch von Leid betroffen wurde? Wenn wir in diesem Sinne der besonderen Ereignisse des abgelaufenen Jahres gedenken, steigt in uns aber unwillkürlich auch der Gedanke an die Zukunft auf. Keines von uns hat das neue Jahr begonnen, ohne sich, insgeheim oder offen, bangend, ängstlich oder hoffnungsvoll, die Frage zu stellen, was die kommenden 365 Tage ihm wohl bringen werden.

So wird der erste Tag des neuen Jahres, ob wir wollen oder nicht, zu einem Tag der Besinnung. Und was für den Einzelnen persönlich oder im Familienkreise zutrifft, gilt auch für den Bundesrat als Landesregierung. Auch ihm sind im abgelaufenen Jahr Sorgen und Nöte nicht erspart geblieben. Wohl war unser Land keiner militärischen Bedrohung ausgesetzt. Aber wir sind von geistigen Kräften der Verneinung bedroht, die gefährlicher sind, weil sie nicht nur den Körper, sondern die Seele zu töten vermögen. Eine schwere Gefährdung entstand zudem im wirtschaftlichen Bereiche. Der Bundesrat musste deshalb zur Erhaltung der Existenz und des Auskommens unserer Familien, rasch und entschlossen handeln. Mit seinen Beschlüssen zum Schutze der Währung und damit zur Erhaltung der Kaufkraft unserer Löhne hat er vor aller Welt gezeigt, dass er nicht geneigt ist, unser Land zum Spielball verantwortungsloser Spekulationen werden zu lassen.

Mit besonderer Umsicht werden wir im neuen Jahr sodann den negativen Auswirkungen des Überbordens der Konjunktur entgegentreten müssen. Wir haben dem wirtschaftlichen Wachstum in den letzten Jahrzehnten ohnehin zu viel geopfert. Es war in mancher Hinsicht auch zu sehr auf einzelne Zentren und Regionen ausgerichtet, während andere - und ich denke hier insbesondere an die Berggebiete - zurückblieben und der Entvölkerung verfielen. Es wird unumgänglich sein, dass die von der Konjunktur besonders begünstigten Wirtschaftszweige Einschränkungen auf sich nehmen, wo die rücksichtslose Entfaltung ihrer Kräfte wesentliche Güter der Gemeinschaft in Gefahr bringt.

Im neuen Jahr stehen uns grosse politische Auseinandersetzungen bevor. Der Bundesrat wird Sie wahrscheinlich nicht weniger als viermal an die Urne rufen. Ich gehe sicher in der Annahme nicht fehl, dass in all den Fällen, da gegenteilige Meinungen aufeinanderprallen werden, wiederum fair und offen gefochten wird. Wenn Toleranz und Solidarität, Freundschaft, Friede und Gerechtigkeit eines Tages weltweit Tatsache werden sollen, müssen sie zunächst tief in den Herzen jedes Einzelnen in unsern Familien und im politischen Leben jedes einzelnen Volkes verwurzelt sein. Warum sollen wir Schweizer nicht versuchen, soweit an uns - und ohne uns als Muster an Tugend zu führen - all jenen, die wir so oft und gelegentlich vielleicht allzu rasch kritisieren, wirklich ein Beispiel zu sein?

Der Bundesrat entbietet Euch allen, liebe Schweizerinnen und Schweizer im In und Ausland, die besten Wünsche zum neuen Jahr und seine herzlichen Grüsse. Seine Wünsche gelten in ganz besonderem Masse den Kranken und Invaliden, verbunden mit dem aufrichtigen Dank an all jene, die sie mit Aufopferung pflegen, sei es in den Spitälern, sei es in Heimen oder im Familienkreise. Der Gruss des Bundesrates gilt aber auch allen, die einsam sind oder von ihren Lieben getrennt leben müssen. Und er gilt schliesslich all jenen, die - aus aller Welt kommend - in unserem Lande Arbeit und eine neue Existenz gefunden haben, die sich an unsern Schulen und Universitäten weiterbilden oder die in unserem Land Entspannung und Erholung suchen. Möge das neue Jahr mit dem Segen des Allmächtigen in Erhörung der Bitten unseres Volkes für alle zu einem glücklichen Jahr werden.

 

Letzte Änderung 01.12.2015

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