1972 - Neujahrsansprache von Bundespräsident Nello Celio

1. Januar 1972 - Es gilt das gesprochene Wort

Liebe Mitbürgerinnen und liebe Mitbürger,

Wenn der neugewählte Bundespräsident am Neujahrstage und damit zu Beginn seines Amtsjahres dem Schweizervolke die Glückwünsche des Bundesrates für das kommende Jahr entbietet, tut er dies nicht nur, um einem alten, schönen Brauche zu genügen, sondern auch um die Gelegenheit zu einem ungezwungenen Gespräch zu benützen. Können doch in unserem Lande die grossen Aufgaben der heutigen Zeit nur mit Unterstützung des Volkes gelöst werden. In der Demokratie setzt das Regieren gegenseitiges Vertrauen voraus.

Ich brauche Euch nicht zu schildern, wie die Welt von heute aussieht. Der Mensch hat nach den Sternen gegriffen; während einer einzigen Generation sind mehr technische Neuerungen erfunden und verwirklicht worden als vorher während Jahrhunderten. Das Wissen wächst in geometrischer Progression.

Die Folgen dieser Entwicklung treten immer deutlicher zutage. Die vielen technischen Neuerungen revolutionieren das bisher Dagewesene in ungeahntem Masse. Die übermässige Beanspruchung der natürlichen Lebensgrundlagen und eine durch Unwissenheit, Sorglosigkeit und egoistische Rücksichtslosigkeit verschuldete Verschmutzung und Verseuchung unsere Umwelt gefährden und bedrohen das Leben von Pflanzen, Tieren und Menschen auf der ganzen Erde.

All das, verbunden mit Teuerung und Geldentwertung, führt zu einem Gefühl der Ohnmacht. Man sieht keine Möglichkeit mehr, wie sich der Einzelne diesem gigantischen, nicht mehr durchschaubaren Geschehen erwehren könnte. Dem ungeheuren Angebot an Annehmlichkeiten steht das Gefühl innerer Leere Gegenüber.

Die Fahrt kann nicht stets mit gleich steigender Beschleunigung fortgeführt werden. In einer von Natur aus begrenzten Welt sind dem Wachstum Grenzen gesetzt, die nicht ungestraft überschritten werden.

Der Bundesrat wird - trotz seiner begrenzten Möglichkeiten - weiter darnach trachten, diese Kräfte möglichst in geordnete Bahnen zu lenken und schädliche Auswirkungen zu verhindern oder doch zu mindern.

Aber wie die Arznei dem Patienten nur hilft, wenn er sich auch selbst wirklich darum bemüht, nach den Ratschlägen des Arztes gesund zu werden, so können auch die Gefahren, die ihm und der Gemeinschaft heute drohen, nicht allein von oben her eingedämmt werden. Der Bürger muss selbst wachsam sein und zur Ordnung schauen, sein Streben dem Allgemeinwohl unterordnen und auf seine Mitmenschen Rücksicht nehmen.

All die Erscheinungen, die uns beängstigen, sind Folgen menschlichen - vielfach gemeinschaftswidrigen - Verhaltens. Sie können daher auch durch menschliches Verhalten, das auf den andern, auf die Gemeinschaft in Familie, Gemeinde, Kanton und Bund Rücksicht nimmt, korrigiert werden. Einschränkungen garantieren die Freiheit des einzelnen.

Unter dem Einfluss entschlossener, gutgesinnter Frauen und Männer, die mit dem guten Beispiel vorangehen, werden sich, so hoffe ich, auf allen Gebieten, vor allem bei Umweltschutz und Inflation, verhältnismässig rasch Erfolge erzielen lassen.

Wir sollten nicht dem Irrtum verfallen, angesichts der weltweit auf uns einstürzenden Eindrücke sei Gegenwirkung überhaupt nur noch in gleicher Grössenordnung möglich. Überall gibt es viele kleine und grosse Dinge zu verbessern. Jeder kann zum Wohle seiner Nächsten und im Interesse des Zusammenlebens in der Gemeinschaft Nützliches leisten.

Ihr Jungen, die Ihr Eure Wege noch sucht, die Ihr einer Welt gegenübersteht, die nicht durch Euch so wurde, zieht Eure Lehren aus den Fehlern der Vergangenheit! Ihr wollt Diskussion? Das ist gut; Diskussion gehört zu jeder Gemeinschaft, vor allem zur Demokratie. Es gibt dafür aber Spielregeln, und diese müssen eingehalten werden. Wer andern seine Meinung aufzwingen will, ohne Gegenargumente anzuhören, will nicht Diskussion, will Unordnung und nicht Gemeinschaft.

Ich bin sicher, dass die Jungen den Weg in die Gemeinschaft unseres Staates finden, und fordere die Älteren und Alten auf, den Weg zum gemeinsamen Gespräch in Freiheit und Ordnung offenzuhalten.

Steinig und mühsam war der Weg, bis die Schweizerfrau die politische Gleichberechtigung erlangt hat. Heute hat sie ein Stimmrecht, das ihr nicht von einer Parlamentsmehrheit geschenkt wurde, sondern das sie sich durch Geduld, Anstand und Klugheit verdient hat. Ich gratuliere Euch, liebe Mitbürgerinnen, zur ersten grösseren Bewährungsprobe, die Ihr mit Eurem Mitwirken bei den eidgenössischen Wahlen bestanden habt.

Wir leben in einem schönen, geordneten, von Wohlstand beglückten Land. Durch Fleiss und Arbeit ist dieser Stand erreicht worden. Vergessen wir nicht, dass dieser Wohlstand nur durch Arbeit, durch Steigerung der Produktion gemehrt, dass nur so der Ausbau unserer grossen Sozialwerke finanziert werden kann. Lassen wir aber auch nicht nach in unseren Bemühungen, die geschaffenen Werte noch gerechter zu verteilen. Das Wohlergehen aller muss unser gemeinsames Ziel bleiben.

Dabei wollen wir aber nicht nur an uns, sondern auch an unsere Zeitgenossen in der weiten Welt denken, von deren Wohlergehen auch unsere Zukunft abhängt. Möge der alte Menschheitstraum, auf Erden Frieden und Gerechtigkeit zu schaffen, mit Hilfe des Allmächtigen der Erfüllung näherkommen. Auch hier ist jeder von uns aufgerufen, seinen Beitrag zu leisten. Und nun, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, nachdem ich mir einige Sorgen vom Herzen gesprochen habe, Wünsche ich Euch allen ein recht gutes neues Jahr. Die unter uns weilenden Ausländer schliesse ich in meinen Neujahrswunsch ein. Besonderen Gruss entbiete ich Euch, liebe Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer in aller Welt, und danke Euch für Eure Anhänglichkeit und Treue zur Heimat. Den Kranken und Bedrückten wünsche ich Genesung, Linderung und Trost. Besonders danken möchte ich aber heute auch all jenen, die Tag für Tag still an ihrem Platze dazu beitragen, dass für Kranke und Schwache gesorgt wird, dass alle die vielen Räder unserer Wirtschaft und öffentlichen Dienste laufen, bei Nacht und Kälte, auch dann, wenn andere schlafen oder Feste feiern.

Der Bundesrat wünscht Ihnen, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger ein frohes 1972.

Letzte Änderung 01.12.2015

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