«Was können wir tun? Tun wir genug?»

Votum von Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga in der Debatte des Nationalrats zur Revision des Asylgesetzes (9. September 2015)

Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga im Nationalrat, Herbstsession 2015. (KEYSTONE/Peter Schneider)

Die heutige Beratung der Neustrukturierung des Schweizer Asylwesens fällt in eine besondere Zeit. Wir haben eine internationale Flüchtlingskrise, die uns allen unter die Haut geht. Wenn wir sehen, was sich derzeit auf den Migrationsrouten, insbesondere in Südosteuropa und dann in Budapest, Österreich und Deutschland abspielt, stellen wir uns Fragen. Gibt es eine europäische Antwort auf diese Herausforderungen? Ist Dublin am Ende? Was können wir tun? Tun wir genug?

Breite Solidarität in der Bevölkerung

Auch wenn wir uns das nicht gerne eingestehen: Es gibt sie nicht, die abschliessende Lösung im Flüchtlingsbereich, die Lösung, die jedes Problem verschwinden lässt. Es mag zu diesen Fragen Haltungen und Antworten geben - so weit, so gut. Aber es ist meine tiefste Überzeugung, und es ist die Überzeugung der Schweizer Landesregierung, dass wir uns bei diesen Fragen an gewissen Leitlinien orientieren müssen: an der menschlichen Würde, am Recht jedes Menschen auf Sicherheit - das ist ein Menschenrecht -, an der Genfer Flüchtlingskonvention, die die Schweiz wie alle Staaten Europas unterzeichnet hat.

Diese Leitlinien sind in breiten Teilen der Bevölkerung tief verankert. Das zeigen Solidaritätsbewegungen, die sich in den letzten Wochen in Deutschland, aber auch in der Schweiz zunehmend manifestiert haben. Nicht nur in Deutschland, auch in der Schweiz wurde die menschliche Würde von Flüchtlingen und Migrantinnen und Migranten in den vergangenen Wochen von einigen aufs Gröbste verletzt. Wer sich so verhält, verletzt die Würde von uns allen, denn man wird Europa und die Schweiz daran messen, wie sie auf diese Flüchtlingskrise reagieren.

Was die Schweiz bereits getan hat

Ich erwähne hier nochmals, was wir, die Schweiz, getan haben, und ich tue dies im Wissen, dass wir angesichts von Millionen von Flüchtlingen allein in den Nachbarstaaten Syriens immer mehr tun könnten. Die Schweiz hat 2013 die Kontingentspolitik wieder aufgenommen, die Ende der Neunzigerjahre auf Eis gelegt wurde. Die Schweiz hat nach Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs als einziger europäischer Staat neben einigen deutschen Bundesländern mit Visa-Erleichterungen dafür gesorgt, dass mehrere Tausend Syrerinnen und Syrer in die Schweiz zu ihren Angehörigen reisen konnten.

Der Bundesrat hat vor einigen Monaten beschlossen - bevor Europa sein Um- und Neuansiedlungsprojekt lancierte, das ja nach wie vor nicht beschlossen ist -, in den nächsten drei Jahren im Grundsatz weitere 3000 schutzbedürftige Personen aufzunehmen. Und selbstverständlich leistet die Schweiz in den Nachbarstaaten von Krisenländern mit beträchtlichen Mitteln Hilfe vor Ort. Der Bundesrat hat diese Hilfe im letzten März nochmals um 50 Millionen Franken aufgestockt. Die Schweiz hat also einiges getan und tut einiges. Die Schweiz gehört auch zu jenen Staaten, welche sich stets zu einer gemeinsamen und solidarischen europäischen Asylpolitik bekannt haben, und ich bin überzeugt, dass der Bundesrat diese Linie und diese Politik fortführen wird.

Enge Kooperation mit den Kantonen

Was wir ebenfalls tun können: Wir können mit einem fairen und gleichzeitig rechtsstaatlichen Asylverfahren innerhalb der Schweiz dafür sorgen, dass die Bürgerinnen und Bürger hinter unserem Asylwesen stehen. Niemand, der sich an Fakten und Tatsachen orientiert, wird ernsthaft bestreiten, dass wir hier unsere Aufgaben gemacht haben. Worin besteht die Aufgabe unseres nationalen Asylwesens? Die Aufgabe besteht einerseits darin, schutzbedürftigen Menschen Schutz zu bieten und ihnen in unserem Land ein Leben in Selbstverantwortung zu ermöglichen. Die Aufgabe besteht aber auch darin, dafür zu sorgen, dass Menschen, die keinen Schutz bekommen, in ihr Heimatland zurückkehren.

An diesem Ziel haben wir in den letzten Jahren intensiv gearbeitet, an der Neustrukturierung im Asylwesen. Sie will genau das: dank raschen und fairen Asylverfahren abklären, ob Menschen hier bleiben können oder in ihr Herkunftsland zurückgehen müssen. Damit können wir verhindern, dass Menschen jahrelang in Ungewissheit verharren müssen. Wer als Flüchtling aufgenommen wird, soll so rasch wie möglich in unserer Gesellschaft und in der Arbeitswelt einen Platz finden. Das ist die beste Art, sich zu integrieren. Und wer zurückgehen muss, soll dies möglichst freiwillig tun. Mit der Rückkehrhilfe kann der Start für einen Neuanfang etwas erleichtert werden.

Wir haben diese Neustrukturierung, die Sie uns vor gut vier Jahren in Auftrag gegeben haben, in enger Zusammenarbeit mit den Kantonen erarbeitet. Die Kantone sind ja für die Unterbringung und später für die Integration der Flüchtlinge zuständig. Auch die Gemeinden und Städte haben wir eng einbezogen. Denn auch sie leisten gerade bei der Integration einen enorm wichtigen Beitrag.

Neues Verfahren im Test

Wir konnten in den letzten eineinhalb Jahren diese raschen und fairen Asylverfahren in einem Testbetrieb bereits durchführen. Die rechtliche Grundlage dazu haben Sie mit der dringlichen Asylgesetzrevision geschaffen, einer Revision, die von der Bevölkerung in der Abstimmung mit 78 Prozent sehr deutlich unterstützt wurde. Was wir heute beraten, wurde also in der Praxis bereits getestet. Wir können aufzeigen, dass diese raschen Asylverfahren nicht nur funktionieren, sondern dass sie dank einem umfassenden Rechtsschutz auch tatsächlich fair sind. Dass dank dieser Massnahme die Entscheide auch besser akzeptiert werden, zeigt sich daran, dass die Beschwerdequote im Testbetrieb tiefer ist als im Normalbetrieb. (...)

Bis heute haben über 80 Delegationen aus dem In- und Ausland und auch zahlreiche Parteien und Fraktionen das Testzentrum besucht. Man hat mir gesagt, dass von diesen 80 Delegationen sich nach dem Besuch 79 positiv oder sehr positiv über den Testbetrieb geäussert hätten.

Beschleunigung der Asylverfahren

Wir haben in den letzten Jahren aber nicht nur an dieser Gesetzesvorlage gearbeitet, sondern parallel dazu überall dort, wo es ohne Änderung des Gesetzes möglich war, die Asylverfahren beschleunigt. Das war für jene Asylverfahren möglich, die offensichtlich unbegründet sind und bei denen die Asylsuchenden aus Staaten kamen, die als sicher einzustufen sind wie zum Beispiel die Staaten des Westbalkans sowie Kosovo und Georgien. Das sogenannte 48-Stunden-Verfahren hat dazu geführt, dass die Asylgesuche aus diesen Staaten massiv zurückgegangen sind.

Wir haben auch die Zusammenarbeit mit den Herkunftsstaaten verstärkt. Dazu gehören auch die bestehenden Migrationspartnerschaften, die wir mit Nigeria, Tunesien, Serbien, Kosovo und Bosnien-Herzegowina haben. Auch diese zeigen beträchtliche Wirkung. Die Asylgesuche aus diesen Staaten sind innerhalb von drei Jahren erheblich gesunken. Das Resultat ist also, dass heute mehrheitlich Menschen in der Schweiz um Asyl nachsuchen, die tatsächlich schutzbedürftig sind. Das dient der Glaubwürdigkeit unseres Asylsystems, und das ist ein wichtiges Ziel dieser Asylgesetzrevision. (...)

Nur eine kleine Minderheit kommt nach Europa

Die Forderung, die Attraktivität zu senken, ist angesichts der Tatsache, dass sich über 80 Prozent der Flüchtlinge weder in der Schweiz noch im übrigen Europa, sondern in den Krisenregionen, in Entwicklungsländern befinden, nicht nachvollziehbar. Was die Asylgesuche in Europa anbelangt, ist der Anteil der Schweiz so tief wie in den letzten fünfzehn Jahren nicht mehr. Ein Hinweis noch zur Attraktivität: In Ungarn ist die Zahl der Asylgesuche in der ersten Hälfte dieses Jahres im Vergleich zum Vorjahr nicht wie bei uns um 16 Prozent gestiegen, sondern um über 1100 Prozent. Ich glaube nicht, dass das daran liegt, dass Ungarn seine Attraktivität für Asylsuchende besonders stark ausgebaut hätte.

Wir können heute nicht alle Probleme lösen, aber wir können das Schweizer Asylwesen einen grossen, einen wichtigen Schritt weiterbringen. Ich danke Ihnen für Ihre Unterstützung.

(Leicht gekürzte Version, der Titel und die Zwischentitel sind von der Redaktion admin.ch gesetzt. Quelle: Amtliches Bulletin des Parlaments)

Die ganze Debatte zum Asylrecht

 

Letzte Änderung 17.11.2015

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