2011 - Ansprache von Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey

1. August 2011 - Es gilt das gesprochene Wort

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger 

Die Schweiz wird 720 Jahre alt. Wir feiern diesen Geburtstag in einer Zeit der Globalisierung, eine neue Zeit, die unsere Identität in Frage stellt und die Art und Weise, wie wir die heutigen Herausforderungen angehen. 

Wir Menschen sind verletzlich und unser Planet ist unter Druck. Seine Ressourcen sind begrenzt. Wir alle sind einem raschen Wandel ausgesetzt. Einem Wandel, der Gewinner und Verlierer schafft. Lange vor der Globalisierung hat der berühmte Schweizer Bildhauer Alberto Giacometti Figuren geschaffen, welche diese Zerrissenheit und Zerbrechlichkeit eindrucksvoll verkörpern. 

Heute steht der Rückzug auf sich selbst im Vordergrund, die Gleichgültigkeit oder, noch schlimmer, die Ablehnung des Gemeinwesens. Einige von uns zweifeln am Nutzen der politischen Arbeit. Die Finanzkrise und ihre Auswirkungen betreffen uns immer noch. Und zum ersten Mal seit 60 Jahren stehen wir vor einer schwierigen Zukunft.

Wir machen uns Sorgen, denn wir erleben einen wachsenden Konkurrenzkampf auf dem Arbeitsmarkt. Wir machen uns Sorgen, denn wir wissen, dass unser Wohlstand nicht auf einem Ungleichgewicht gründen kann, wenn die einen Millionen verdienen, die andern aber nur 4000 Franken pro Monat. 

Was in der Vergangenheit funktioniert hat, scheint heute nicht mehr zu funktionieren. Und es wird uns bewusst, dass in einer globalisierten Welt unser Alltag auch und immer stärker abhängig ist von dem, was anderswo geschieht. 

Die Katastrophe von Fukushima, die Klimaerwärmung, Gewalt, Elend und Hungersnöte weltweit, die Einwanderung, die Eurokrise, all dies verunsichert viele von uns. Ich verstehe diese Ängste und Unsicherheiten. 

Im internationalen Vergleich hält sich die Schweiz gut. Unsere Lebensqualität, unsere Sicherheit und unser Wohlstand sind so hoch, dass andere uns darum beneiden. Aber das Gleichgewicht ist labil. Der Bundesrat stellt sich der grossen Aufgabe und sucht Lösungen für die anstehenden Probleme: Er hat einen schrittweisen Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen und setzt auf erneuerbare Energien und eine effiziente Energienutzung. Er verhandelt mit anderen Staaten, um den Druck auf unser Steuer- und Rechtssystem zu vermindern. Im Verhältnis zur Europäischen Union hält er am bilateralen Weg mit seinen Vorteilen fest und will ihn verstärken, um die Unabhängigkeit und Handlungsfreiheit unseres Landes zu bewahren. Wir bemühen uns unablässig, unseren Einfluss in der Welt zu verstärken, um die Interessen der Schweiz verteidigen zu können. Die Eurokrise und der starke Franken, die wirksame Anwendung der flankierenden Massnahmen gegen Lohndumping, all dies beschäftigt uns in hohem Masse. 

Am 1. August feiern wir den Widerstand gegen die Tyrannei und den Bundesschwur der Eidgenossen. Wir feiern den grossartigen Gründungsmythos unseres Landes, der uns heute noch Mut, Hoffnung und Kraft gibt, um immer wieder aufzubrechen. 

Von allem Anfang an war die Schweiz offen für Handel und Austausch mit dem Ausland. Sie hat sich eingesetzt für Toleranz und eine humanitäre Tradition entwickelt. Ja, unser Land gründet auf der Zusammenarbeit der Staaten und der Erarbeitung von sozialen und politischen Institutionen, die ein friedliches Zusammenleben der Bewohnerinnen und Bewohner ermöglichen. 
Diesen Geist müssen wir uns bewahren. Die Fussballmannschaft der U-21 hat es uns vorgemacht. Diese jungen Spieler sind optimistisch, selbstbewusst und kämpferisch. Sie haben keine Angst, sich der Konkurrenz zu stellen. Ein ängstliches Team erreicht das Finalspiel nicht. Eine ängstliche Nation hat keinen Erfolg. Diese jungen Spieler, die die Farben der Schweiz in die Welt getragen haben, haben nicht immer typische Schweizer Namen. Unsere U-21-Mannschaft verkörpert eine offene Schweiz, eine Schweiz, die erfolgreich ist – gerade wegen ihrer Toleranz und ihres Teamgeistes.

Auf diese Schweiz können wir stolz sein. Ich weiss: Bescheidenheit und Selbstkritik, das sind zwar typisch schweizerische Tugenden. Legen wir sie an diesem 1. August doch für einmal auf die Seite! Es lebe die Schweiz!

Download Nationalfeiertag 2011 (MP3, 4 MB, 15.09.2014)

Letzte Änderung 30.11.2015

Zum Seitenanfang

https://www.admin.ch/content/gov/de/start/dokumentation/reden/ansprachen-zum-nationalfeiertag/2011.html