1998 - Ansprache von Bundespräsident Flavio Cotti zum Nationalfeiertag

1. August 1998 - Es gilt das gesprochene Wort

Es ist mir eine ausserordentliche Freude, mich heute Abend hier in Lugano (der „alma Lugano, tutta ricinta di grazia„, wie Giuseppe Motta am 1. August 1921 poetisch formulierte) als Bundespräsident an Sie wenden zu dürfen. Die Freude, die ich empfinde, ist umso grösser, als der diesjährige Nationalfeiertag ein ganz besonderes Fest darstellt: Wir feiern nämlich das 150-jährige Bestehen unseres Bundesstaates, ein Jubiläum, zu dem ich in den vergangenen Monaten schon mehrmals Gelegenheit hatte, mich zu äussern. Heute werde ich mich daher vor allem mit einem anderen Jubiläum befassen, das in diesem Jahr ansteht: Es trennen uns 200 Jahre von den Ereignissen von 1798, die zur Gründung unseres freien und unabhängigen Kantons Tessin führten.

 

1798, 1848: zwei Jahre, die für die Geschichte unseres Landes von grundlegender Bedeutung sind. Sie lassen uns bewegt an unsere Vorfahren denken, die zuerst den Grundstein gelegt und danach Stein um Stein unser gemeinsames Haus aufgebaut haben. Wir haben allen Grund, auf dieses Haus - ohne in Überheblichkeit zu verfallen - stolz zu sein.

Ihnen allen, die mir hier in Lugano zuhören, Ihnen, die der Ansprache des Bundespräsidenten am Radio oder am Fernsehen folgen, allen Mitbürgerinnen und Mitbürgern in der Schweiz und im Ausland wünsche ich einen frohen, unbeschwerten 1. August. Möge es Ihnen gelingen, Freude und Besinnung in einem Geist der Offenheit und der Solidarität miteinander zu verbinden. Hier in Lugano begrüsse ich auch unsere lieben Gäste aus dem Ausland, die unserem Land so viel Sympathie entgegenbringen.

2. Liberi e Svizzeri

Meine Damen und Herren, uns allen sind die Ereignisse vom 15. Februar 1798 bekannt. Als zwischen 5 und 6 Uhr früh die Cisalpiner von Campione herkommend in der Nähe der Cassarate-Mündung anlegten und kurz darauf durch die Porta S. Rocco in Lugano eindrangen, läuteten die Stadtglocken Sturm und schreckten die Bürger aus den Betten. Trotz der heftigen Gegenwehr des Freiwilligencorps stiessen die Eindringlinge innert Kürze zum Grande Albergo (später Albergo Svizzero) vor, dem Sitz der schweizerischen Vertreter Stockmann und de Buman. Doch kurz darauf wurden sie von der inzwischen aufgewachten Bevölkerung überrascht. Sie mussten die Waffen strecken, und man liess sie erst wieder ziehen, als sie ihre Gefangenen freigelassen hatten. Die Bevölkerung wurde durch dieses Ereignis unvermittelt aufgerüttelt. Eine grosse Menschenmenge versammelte sich vor dem "Albergo", und die Untertanenschaft wurde für beendet erklärt.

Was sich an jenem Februarnachmittag in Lugano ereignete, ist hinreichend bekannt und auch hervorragend illustriert in der Ausstellung, die wir heute Nachmittag eröffnet haben. Die Advokaten Pellegrini und Stoppani drangen in das „Albergo„ ein, um für die Schweizer, wie sie sie nannten, Freiheit zu fordern. Und kurz darauf schilderte der provisorische Rat von Lugano den eidgenössischen Ständen die Ereignisse dieses Tages mit folgenden emotionsgeladenen Worten: „Voller Zuversicht eilt das erregte Volk zu den Herren Vertretern, bittet sie, der Freiheitserklärung zuzustimmen, bekommt die Zustimmung und verkündet die Freiheit„.

Auch wenn, wie sich zeigen sollte, in der Bevölkerung noch alles andere als Einstimmigkeit herrschte und sich die Vertreter der Eidgenossenschaft nicht einig waren, wie sie auf diese neue Bewegung reagieren sollten, wurde eines rasch klar: Was in diesen Tagen in Lugano passiert war, löste eine unaufhaltsame Befreiungsbewegung aus, die das ganze Land erfasste.

Die Bewegung, die zur Unabhängigkeit und zur Gleichstellung des Tessins mit allen anderen Kantonen der Schweiz führte, ging also von hier, von der Stadt Lugano aus. In Lugano wurde die drei Jahrhunderte andauernde Herrschaft der Landvögte beendigt. Hier wurde aber auch der Grundstein gelegt für den Kanton Tessin als Teil unserer schweizerischen Heimat und für die Zusammenarbeit, die einige Jahre später zur Schaffung unseres Kantons führte, so wie wir ihn heute kennen.

Meine Damen und Herren, wir wissen aber auch, welch schwierige Zeiten noch auf den Kanton Tessin zukamen. Die Fortschritte, die der freie Kanton innerhalb der Eidgenossenschaft erzielt hat, sind für viele von uns zur Selbstverständlichkeit geworden. Und nur zu oft vergessen wir, dass unsere Vorfahren dafür einen sehr hohen Preis bezahlt haben, dass auch für unsere Bevölkerung sich hinter dem Wort Fortschritt Schmerz, harte Arbeit und grosse Sorgen verbergen. Armut, Seuchen, Auswanderung sind Begriffe, die unsere Geschichte und unsere Familien tief geprägt haben. Auch daran müssen wir uns am 1. August erinnern.

3. Das Tessin - einzigartig schweizerisch

Meine Damen und Herren, was 1798 begann und sich 1803 festigte, führte trotz aller Rückschläge und Hindernisse mit der ersten modernen Bundesverfassung von 1848 zur endgültigen Gleichstellung des Tessins mit den anderen Kantonen. Auch das, was 1848 erreicht wurde, bedeutet eine ausserordentliche Errungenschaft, auf die wir als Tessinerinnen und Tessiner, aber auch als Schweizerinnen und Schweizer stolz sein können. Denn im Gegensatz zu vielen anderen Regionen dieses Kontinents haben wir es geschafft, ein multiethnisches Land zu bilden, das Nationalität nicht als Ausdruck einer gemeinsamen, uns mitgegebenen Kultur versteht, sondern als Ausdruck eines gemeinsamen politischen Willens begreift. Mit der Entstehung eines souveränen italienischsprachigen Kantons bildete sich die „dritte Schweiz„ , gemeinsam mit dem italienischsprachigen Graubünden, als Teil eines Landes, in dem jede Sprachgemeinschaft gleiche Rechte und Chancen besitzt.

Dies zumindest auf dem Papier, als Ideal und Grundgedanke unserer vom Schweizer Volk gewollten Verfassung. Und hier also an diesem Abend in der wichtigsten, dem italienischen Kulturkreis zugehörenden Schweizer Stadt wende ich mich als Bundespräsident an Sie, meine Landsleute, in meiner Sprache, dem Italienischen, der Sprache einer kleinen Minderheit dieses Landes. Mehrsprachigkeit, Multikulturalität: Dies sind Grundwerte, die unser Land auszeichnen. Allerdings, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, können wir uns nicht darauf beschränken, diese Werte bloss zu verkünden und uns auf die entsprechenden Bestimmungen unserer Verfassung zu berufen. Gerade als Vertreterinnen und Vertreter der italienischsprachigen Minderheit wissen wir sehr gut, wie weit der Weg bis zu einer wirklichen, im Alltag tatsächlich gelebten Mehrsprachigkeit noch ist. Vor ein paar Jahrzehnten, namentlich in den Jahren vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, betrachtete man es als vordringliche Aufgabe der Vertreterinnen und Vertreter der Sprachminderheiten, die lateinischen Sprachen im Sprachgebiet selber zu bewahren. Heute sehen wir diese Frage, zumindest teilweise, in einem anderen Licht. Und diese andere Sichtweise war für uns wegweisend für die positive Entwicklung, die wir trotz allem in den vergangenen Jahrzehnten durchlaufen haben. Niemandem käme es heute in den Sinn, an der Solidität der kulturellen Wurzeln beispielsweise der italienischen Schweiz zu zweifeln. Lugano ist das Wahrzeichen unserer Zugehörigkeit zu dieser grossen europäischen Kultur. Unsere Aufgabe geht weit über das hinaus, was ich eben skizziert habe: Es geht darum, eine Sprache und eine Kultur nicht nur im eigenen Gebiet lebendig zu erhalten, sondern die Präsenz der Landessprachen im ganzen Land zu fördern. Denn Mehrsprachigkeit in der Schweiz kann nicht nur das Nebeneinander verschiedener Sprachgebiete bedeuten. Und ich bin nicht der einzige, der so denkt.

Am 1. August 1967 äusserte sich Friedrich Dürrenmatt zum Verhältnis unter den verschiedenen Sprachgruppen und meinte: „Das Verhältnis ist kein Gutes. Es ist eigentlich kein Verhältnis. Es ist ein Nebeneinanderleben, aber kein Zusammenleben. Was fehlt ist der Dialog, das Gespräch, die Neugierde aufeinander, die Information„.

Trotz einiger Fortschritte - ich denke dabei an die kürzliche Annahme des neuen Sprachenartikels durch das Volk, für den ich mich während meiner Zeit an der Spitze des EDI stark gemacht habe - bleibt noch viel zu tun, so im Unterricht der Landessprachen, namentlich der Minderheitensprachen wie Italienisch, in den Schulen unseres Landes. Hier müssen die Kantone Farbe bekennen. Wenn die Mehrsprachigkeit in der Schweiz tatsächlich gelebte Wirklichkeit sein soll, heisst das, dass neben dem Englischen als Weltsprache auch die Landessprachen in angemessener Weise vermittelt werden müssen. Viel zu tun bleibt aber auch für eine stärkere Präsenz der italienischsprachigen Medien jenseits der Alpen, für eine bessere Vertretung der Sprachminderheiten an wichtigen Stellen von Verwaltung und Privatwirtschaft, im Verkehr des Bundesstaates mit den Bürgerinnen und Bürgern der Minderheitenregionen und so weiter. Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, für die Identität der Schweizerinnen und Schweizer und für die Zukunft unseres Landes ist es von absolut zentraler Bedeutung, ob das Bewusstsein einer multikulturellen Schweiz echt und gelebt oder nur billiges Lippenbekenntnis ist. Die unzähligen 1. August-Ansprachen, die die Multikulturalität unseres Landes beschwören, nützen wenig, wenn im Alltag des restlichen Jahrs diese Grundbedingungen des Zusammenlebens zwischen Mehrheiten und Minderheiten einfach vergessen werden.

Es geht aber nicht nur um die Sprachenfrage. In den vergangenen zwei Jahrhunderten hat sich das Tessin auch wirtschaftlich von der 300-jährigen Ausbeutung durch die Landvögte befreit.

Unsere Bevölkerung hat die von Generation zu Generation weitergegebene Armut, zu der sie auf ewig verdammt schien, überwunden. Und dennoch bleibt das wirtschaftliche Gefälle zwischen dieser Region und anderen Randregionen im Vergleich zu den reichsten und bedeutungsvollsten Gebieten unseres Landes gross, ja zu gross. Die Arbeitslosenraten sind ein sprechender Beweis dieses Grabens. Die Bundesverfassung, die wir dieses Jahr feiern, ist darum auch im Lichte der Notwendigkeit zu sehen, unter den Regionen unseres Landes wirtschaftliche und finanzielle Gerechtigkeit und Ausgewogenheit zu gewährleisten. Wie die Erhaltung unseres Wohlfahrtsstaates für den Zusammenhalt der Schweizerinnen und Schweizer von grundlegender Bedeutung ist, so ist auch ein ausgewogeneres Verhältnis zwischen den Regionen zentrale Voraussetzung für entspannte Beziehungen innerhalb unseres Landes. Eine unabdingbare Voraussetzung für den inneren Zusammenhalt, der, seien wir uns dessen bewusst, nicht ein Geschenk des Himmels ist, sondern Tag für Tag neu erarbeitet werden muss.

Wir, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, feiern dieses Jahr also die wahrlich kopernikanische Revolution, die sich vor zweihundert Jahren für den Kanton Tessin hier in Lugano zugetragen; und auch jene andere, mindestens so bedeutende Revolution, die unsere Vorfahren vollzogen haben, als sie 1848 die Bundesverfassung schufen. Heute können wir ohne den Hauch eines Zweifels sagen: In jenen entscheidenden Jahren wurden die Fundamente für das Wachstum, die Entwicklung und den Erfolg des Tessins und der ganzen Schweiz geschaffen. Wir können uns jedoch nicht darauf beschränken, uns auf den grossen Erfolgen der Vergangenheit auszuruhen. Sich erinnern muss immer auch heissen die aktuelle Wirklichkeit erfassen, die Zukunft planen. Heute Abend wollte ich hier in Lugano namentlich zwei brennend aktuelle Themen aufgreifen: die Mehrsprachigkeit und das Gleichgewicht zwischen den Regionen unseres Landes. Selbstverständlich muss sich unser Land aber auch anderen Herausforderungen stellen. Ich denke dabei, und hier spreche ich in meiner Funktion als Aussenminister, an unsere internationalen Beziehungen, von denen je länger je mehr der Wohlstand der gesamten Bevölkerung unseres Landes abhängt. Und in diesem Zusammenhang an die sich immer klarer abzeichnende Notwendigkeit, am Prozess zur Schaffung eines friedlichen, wirtschaftlich starken und sozialen Europas voll mitzuwirken und dazu auch etwas sagen zu können. Ich denke auch an die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft, an die Stabilität unserer sozialen Institutionen, an die Tragfähigkeit unserer Anstrengungen im Bereich des Umweltschutzes.

Es ist Aufgabe unserer Generation, den von unseren Ahnen eingeschlagenen Weg weiter zu gehen, unter veränderten Bedingungen zwar, aber auf der Grundlage der gleichen Werte. Und diese Aufgabe betrifft in einer direkten Demokratie alle Mitbürgerinnen und Mitbürger gleichermassen. Niemand kann sich der Pflicht entziehen, darauf hinzuwirken, dass die kommenden Generationen, die gleichen Gefühle der Dankbarkeit und des Stolzes empfinden wie wir heute.

Meine Damen und Herren, im September dieses Jahres jährt sich der Todestag des Bundesrates Giuseppe Lepori zum dreissigsten Mal. Erlauben Sie mir, meine Ausführungen mit den Worten zu beschliessen, die er verwendete, um die Haltung unserer Landsleute der Epoche zu beschreiben, mit der wir uns heute beschäftigt haben. Lepori beschreibt die Härten und das Leiden jener ersten Jahre der Unabhängigkeit, fügt dem jedoch hinzu: „Eppure il Ticino chiama in aiuto le sue forze profonde, (...), prende piena coscienza della sua vocazione, quale era apparsa profeticamente all’anima dei cittadini luganesi il 15 febbraio 1798, come il repentino sfolgorare del sole fra le nubi squarciate, nell’anelito alla libertà e nella fiducia del suo destino. Animosamente affronta l’avvenire„.

Meine Damen und Herren, ich wünsche Ihnen noch einmal von Herzen einen schönen Abschluss unseres Festes zum 1. August.

Download Nationalfeiertag 1998 (MP3, 1 MB, 15.09.2014)

Letzte Änderung 30.11.2015

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