1994 - Ansprache von Bundespräsident Otto Stich zum Nationalfeiertag

1. August 1994 - Es gilt das gesprochene Wort 

Liebe Mitbürgerinnen, liebe Mitbürger,

Zur diesjährigen Bundesfeier entbiete ich Ihnen die besten Grüsse und Wünsche des Bundesrates. Heute habe ich das Napfgebiet besucht, wo zurzeit rund 23000 Pfadfinderinnen und Pfadfinder im Bundeslager sind. Sie haben sich nicht nur zum Ziel gesetzt, die sprachlichen, konfessionellen und sozialen Barrieren zu beseitigen. Die Jugendlichen wollen weitergehen und die Gegensätze nutzen: Das Lagermotto heisst «Cuntrast» oder deutsch Kontrast. Aus verschiedenen Meinungen entsteht Dialog, aus engagierter Diskussion wächst Verständnis und aus gelebter Vielfalt gegenseitige Achtung. Im Napfgebiet lebt die Jugend in der Gemeinschaft und für die Gemeinschaft. Diese Einstellung hat Vorbildcharakter für das ganze Land: Die Schweiz muss sich wieder vermehrt auf Toleranz, Solidarität und Dialog besinnen, will sie die Zukunft erfolgreich bewältigen.

Wir leben in einer Zeit grosser weltweiter Veränderungen. Die enormen Spannungen zwischen Ost und West gehören zwar der Vergangenheit an. Viel friedlicher ist es aber nicht geworden. Die zahlreichen lokalen Konflikte werden mit einer unbeschreiblichen Härte und Grausamkeit ausgetragen. Die Schweiz muss in Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen zur Lösung solcher Probleme beitragen. Dabei reicht es nicht, UNO und Blauhelme zu kritisieren. Notwendig ist vielmehr die tatkräftige Hilfe und Unterstützung durch die Schweiz.

Eine globale Sichtweise ist nicht nur auf der politischen, sondern auch auf der wirtschaftlichen Ebene nötig. Unser Land muss mithelfen, die Ungleichgewichte zwischen den Ländern zu verkleinern und weltweite Spielregeln einzuführen. Einen ersten Schritt haben wir mit dem Einsitz in die Weltbank und den Währungsfonds gemacht. Jetzt steht ein zweiter, wichtiger Schritt an: Die Zustimmung zum neuen Gatt-Abkommen. Als kleines exportorientiertes Land ist die Schweiz auf nicht diskriminierende internationale Wettbewerbsregeln angewiesen. Damit sind aber nicht alle Probleme gelöst. Denn der Welthandel soll nicht nur frei, er muss zudem auf die Bedürfnisse von Mensch und Umwelt zugeschnitten sein.

Weichenstellungen sind auch im eigenen Land gefordert, harren doch wichtige Probleme einer Lösung. Zentral ist die Sanierung der Bundesfinanzen. Immer noch leben wir über unsere Verhältnisse. Die Verschuldung begünstigt auf die Dauer das Entstehen einer Zweiklassengesellschaft. Zukunftsgerichtete Lösungen sind auch für die AHV, die Arbeitslosenversicherung und das Drogenproblem gefragt. Neben der Politik steht die Wirtschaft in der Pflicht: Sie muss dazu beitragen, dass die Menschen in unserem Land Arbeit haben.

Die Schweiz ist bald ganz von EU-Ländern umgeben. Auch für uns stellt sich mittelfristig die Frage, ob wir diesen Prozess durch einen Beitritt und Mitsprache verstärken wollen. Dies darf uns indessen nicht daran hindern, das eigene Haus in Ordnung zu bringen. Denn das ist die beste Voraussetzung für eine gute Zukunft unseres Landes.

Liebe Mitbürgerinnen, liebe Mitbürger, Der Nationalfeiertag ist ein guter Anlass, darüber nachzudenken, was der Staat alles leisten soll und was wir für ihn zu leisten bereit sind. Unsere direkte Demokratie hat den grossen Vorteil, dass wir alle diesen Staat persönlich mitformen können. Helfen Sie mit, unsere Eidgenossenschaft für die Zukunft zu gestalten!

Letzte Änderung 30.11.2015

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