1993 - Ansprache von Bundespräsident Adolf Ogi zum Nationalfeiertag

1. August 1993 - Es gilt das gesprochene Wort

Sie sehen im Hintergrund Eiger, Mönch und Jungfrau. Und den ewigen Schnee. Diese Berge sind Zeugen der langen und wechselvollen Geschichte unserer Schweiz. Eiger, Mönch und Jungfrau haben sich nicht verändert. Die Schweiz hat sich verändert: Die Eidgenossenschaft, wie wir sie aus der Geschichte kennen, ist ein moderner sozialer Staat geworden. Dieser Staat - unsere Schweiz - ist Teil der rasanten und auch dramatischen Entwicklungen, die Europa und die Welt verändern.

Kein Berg, kein Tal, kein Fluss und kein See trennt uns mehr vom Geschehen in Europa und in der Welt: Das Fernsehen bringt uns die Bilder des Krieges im ehemaligen Jugoslawien und des Elends in Somalia in die Stube. Auch hinter den Bergen, die unserer Heimat das unverwechselbare Gesicht geben, sind wir Bürger Europas und Bürger der Welt. Das aber ist eine grosse Verpflichtung für uns. Was ist es für eine Verpflichtung, als Schweizerin und als Schweizer in dieser Zeit der Veränderungen, ja der Umwälzungen zu leben? Es ist die Pflicht, wach und aktiv teilzunehmen am Geschehen! Wach und aktiv sich einzusetzen für die Lösung so vieler Probleme, die auf uns alle einstürzen! In der Welt, in Europa, in unserem Land.

Die Schweiz ist ein kleines Land. Und die Versuchung ist gross, dass wir uns noch kleiner machen! Dass wir uns zurückziehen in das Schneckenhaus, um nicht mitmachen zu müssen in dieser Zeit der grossen und ungelösten Probleme. Denn das Schneckenhaus ist klein und nicht unzerbrechlich. Und es bietet letztlich keinen Schutz.

Wir haben also gar nicht die Wahl, ob wir mitmachen oder ob wir uns zurückziehen wollen. Wir müssen selbstbewusst anpacken und mithelfen, die grossen Zeitprobleme zu lösen. Dazu gehört die Bereitschaft, uns am europäischen Gestaltungsprozess zu beteiligen durch Leistungen für Mittel- und Osteuropa. Dazu gehört unser solidarisches Engagement für die westeuropäische Völkergemeinschaft. Dazu gehört unsere Hilfe für die Dritte Welt, in der die Armut für Millionen Menschen unerträglich wird.

Ich weiss, die Frage liegt nahe: Warum sollen wir uns für Andere, für Fremde einsetzen? Aber die Andern sind nicht mehr die Andern. Und die Fremden sind nicht die Fremden. Denn die Freiheit in dieser Welt ist ebenso unteilbar wie die Gerechtigkeit. Wenn wir Unfreiheit zulassen, dann werden wir von dieser Unfreiheit betroffen durch flüchtende Menschen. Und wenn wir Ungerechtigkeit zulassen, dann wird die Ungerechtigkeit uns einholen: durch flüchtende Menschen.

Um stark zu sein im Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit, um glaubwürdig zu sein als Stimme der Demokratie und der Humanität, müssen wir unser eigenes Haus in Ordnung halten. Wie noch nie sind wir in unserem Land herausgefordert von Problemen, die wir dringend lösen müssen. Wir haben Arbeitslosigkeit in einem Ausmass, das wir uns noch vor wenigen Jahren nicht hätten vorstellen können. Unsere Wirtschaft hat international an Kraft verloren. Unsere Landwirtschaft befindet sich an einem kritischen Punkt ihrer Entwicklung. Die Finanzen des Bundes, der Kantone und vieler Gemeinden sind in besorgniserregendem Zustand.

Wir sind in der Lage, diese Probleme zu lösen. Davon bin ich fest überzeugt. Doch was braucht es dazu? Es braucht dazu die Solidarität untereinander und das Schaffen miteinander. Vor allem braucht es den Blick nach vorn, den Glauben an unsere schweizerische Zukunft.

Doch Hand aufs Herz! Sind wir solidarisch genug? Packen wir die Probleme gemeinsam an? Blicken wir nach vorn? Glauben wir an unsere schweizerische Zukunft?

Ich habe in letzter Zeit doch sehr den Eindruck, dass wir immer öfter statt miteinander gegeneinander die Probleme zu lösen versuchen. Dass wir eher wehmütig zurückblicken als mutig vorausschauen. Dass wir uns fürchten vor der Zukunft.

Ja, ein gewisser Griesgram hat sich in unserem Land breitgemacht. Wer immer etwas unternimmt in der Schweiz, wer etwas wagt, der muss damit rechnen, in hämischem Tone kritisiert zu werden. Die politischen und wirtschaftlichen Interessengruppen neutralisieren sich allzu oft gegenseitig durch Unnachgiebigkeit. Wie Mehltau liegt eine pessimistische Stimmung über unserem Land.

Es fehlt die Freude an konstruktivem Konsens. Es fehlt die Freude an uns selbst! Es fehlt die Begeisterung, aus der Schweiz von heute die Schweiz von morgen zu machen.

Doch wir kommen nicht darum herum, unsere Zukunft zu gestalten - sonst geben wir uns selbst auf. Und dazu brauchen wir in den wichtigsten Fragen den konstruktiven Konsens. Das heisst: Jede Frau und jeder Mann in unserem Land müssen etwas einbringen in diesen Konsens - und alle müssen bereit sein, auf etwas zu verzichten - zugunsten der gemeinsamen Lösung.

Ich fordere nicht die einheitliche Meinung in unserem Land. Wir brauchen Meinungsverschiedenheiten. Wir müssen diese Meinungsverschiedenheiten austragen. Hart und fair. Aber wir dürfen uns nicht in diesen Meinungsverschiedenheiten verlieren.

Wir müssen uns einigen auf Lösungen, die wir gemeinsam tragen: auf die Schweiz der Zukunft, die sich eingliedert in die Völkergemeinschaft, die im wirtschaftlichen Konkurrenzkampf besteht, und auf eine Schweiz, die auch zur Friedenssicherung beiträgt.

Das ist eine Forderung nicht nur an die Politiker oder an die Wirtschaftsführer. Das ist eine Forderung an Sie alle, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger. Sie machen die Stimmung im Land. Sie können die Dinge wenden. Sie bestimmen in unserer direkten Demokratie den Gang der Dinge. Wenn Sie sich an unserer Demokratie beteiligen. Ich wünsche Ihnen einen schönen ersten August.

Letzte Änderung 30.11.2015

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