1992 - Ansprache von Bundespräsident René Felber zum Nationalfeiertag

1. August 1992 - Es gilt das gesprochene Wort 

 

Der Nationalfeiertag ist für uns Schweizer eher ein Tag gemeinsamer Besinnung als ein überbordendes Volksfest. Es ist der Tag, an dem wir uns - jede und jeder für sich sozusagen - Gedanken über unser Vaterland machen und all das überschauen, was uns mit ihm verbindet.

Das Bild der Schweiz, das uns zuallererst erscheint, ist sicher dasjenige, das uns am vertrautesten ist: Es ist die Landschaft, in der wir leben, die Farbe der Dächer unserer Stadt oder unseres Dorfes, eine Strasse, die Geräusche, die uns täglich begleiten. Es sind auch die Gesichter unserer Freunde, unserer Nachbarn, all jener, die Freud und Leid mit uns teilen. Das alles kann uns niemand nehmen. Zu diesen persönlichen Dingen gesellt sich das Bewusstsein, dass wir gleichzeitig einem sehr viel komplexeren Ganzen angehören. Wir sind Teil eines sehr weit entwickelten Gebildes, das durch die Erfahrungen all der Jahre und Jahrhunderte unserer Geschichte zu dem geworden ist, was wir heute kennen: zur modernen Schweiz, zum föderalistischen Staat, der die Vielfalt seiner Teilstaaten nutzte, der vereinheitlichte, was zu vereinheitlichen war, ohne dass sich jemand dominiert fühlen musste, und respektierte, was zu respektieren war. Diese grosse kulturelle Vielfalt, diese lokalen und regionalen Traditionen, diese besonderen Bräuche sind ohne Zweifel die vitalen Kräfte unseres demokratischen Systems. Wir haben allen Grund dazu, sie mit aller Sorgfalt zu hüten. Sie sind die Seele unserer Kreativität und die Garanten unserer Entwicklung. Und von diesen Werten müssen wir auch ausgehen, wenn wir unsere Zukunft planen.

Um die Schweiz zu dem zu machen, was sie heute ist, waren Entscheide zu treffen, sehr mutige zuweilen, und mussten Reformen durchgestanden werden. Nur so konnte aus unserem Land ein moderner Staat werden. Wir können uns nicht aus der Geschichte und aus der Entwicklung, die sie nach sich zieht, heraushalten. Jedes grössere Ereignis in Europa oder gar in der Welt übt einen Einfluss aus auf uns und zwingt uns oft, unsere Haltung und unser Urteil zu ändern.

In den letzten Jahrzehnten hat sich unser Land in beträchtlichem Masse geöffnet, und es zieht aus dem internationalen Austausch einen grossen Teil seines Wohlstandes. Der Friede, der in unseren Nachbarländern nun schon fast seit 50 Jahren herrscht, hat zu seiner Entwicklung beigetragen. Wie den andern modernen, demokratischen und industrialisierten Staaten ist es der Schweiz gelungen, die wirtschaftliche Entwicklung mit den unerlässlichen sozialen Spielregeln zu ergänzen, die heute niemand mehr in ihrer Substanz in Frage stellen möchte.

Wir wissen, dass wir das Gebäude, das wir gemeinsam errichtet haben und das in Übereinstimmung mit unseren Traditionen entstanden ist, weiter verbessern können und verbessern müssen. Aber das will nicht heissen, dass wir niederreissen müssen, was wir alle aufgebaut und gewollt haben.

Eines ist jedoch klar: Wir können unsere Zukunft nicht losgetrennt von der Zukunft unseres Kontinents gestalten.

Nichts wäre schlimmer, als auf die Herausforderung, die uns Europa stellt, mit Angst und Mutlosigkeit zu reagieren, denn diese haben noch nie zur Bewältigung der Zukunft beigetragen.

Unsere ganze Geschichte zeigt mit aller Deutlichkeit, dass wir fähig sind, die Herausforderungen anzunehmen, ohne uns zu isolieren, und zwar gerade weil wir Vertrauen in unsere Fähigkeit haben, uns in einem grösseren Ganzen zu behaupten. Dies ist auch jedem unserer Kantone bei der Entstehung der modernen Schweiz geglückt. Auch wenn wir uns etwas anders verwalten als unsere Nachbarn, so achten wir doch die genau gleichen Grundwerte wie sie. Wir wissen, dass Friede nur durch den Willen zur Zusammenarbeit entsteht und dass Zusammenarbeit nationale Besonderheiten nicht verdrängt, sondern vielmehr in einem grösseren und ehrgeizigeren Ganzen zur Geltung bringt.

Am meisten können wir den andern bringen, wenn wir unseren eigenen Fähigkeiten vertrauen. Und gerade dieses Vertrauen ist es, das wir auch brauchen, um die grossen Probleme, die sich uns im Innern der Schweiz stellen, zu bewältigen.

Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die Ausbreitung der Armut, das Ansteigen der Lebenskosten, das immer grösser werdende Ungleichgewicht zwischen denen, die ein normales Auskommen haben, und denen, die an der Schwelle zur Armut leben und dadurch in ihrer Menschenwürde verletzt werden: Das alles sind Frustrationen. Sie zwingen uns, unsere innere Organisation zu überdenken, zweifellos auch auf einen übertriebenen Individualismus, der uns die andern vergessen lässt, zu verzichten. Sie zwingen uns auch, wie in allen schwierigen Zeiten, uns im Geist der Freundschaft und der Solidarität zu finden.

Die Kapitel unserer künftigen Geschichte werden nicht mit vereinfachenden Schlagwörtern geschrieben, und das Schüren von Angst hat noch nie eine Lösung gebracht.

Der Bundesrat und auch ich persönlich hoffen und wünschen an diesem 1. August, dass alle diese Probleme und Fragen in einer offenen, breiten und konstruktiven Diskussion angegangen werden und dass wir uns nicht in einem sterilen Kampf verlieren, indem man einander nur Pauschalurteile und verabsolutierende Behauptungen entgegenhält, ohne aufeinander zuzugehen.

Es gibt nicht gute und schlechte Schweizer. Es gibt nur Bürgerinnen und Bürger, die aufgerufen sind zu entscheiden, welchen Weg ihr Land einschlagen soll, und die deshalb die Schwierigkeiten und die Unannehmlichkeiten, welche die verschiedenen Wege bieten, kennen müssen.

 

Letzte Änderung 30.11.2015

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