1991 - Ansprache von Bundespräsident Flavio Cotti zum Nationalfeiertag

1. August 1991 - Es gilt das gesprochene Wort 

Dass wir Schweizer eine Vorliebe für grosszügig inszenierte Staatsfeiern hätten, wird wohl niemand behaupten. Neigung zu Pomp und Pathos ist diesem Lande fremd. So wurden denn die vielen bisherigen Feiern, Feste und Anlässe im Rahmen des 700-Jahr Jubiläums zwar würdig, nie aber grossspurig und protzig begangen. Dies entspricht einer - so glaube ich - guten schweizerischen Tradition.

Wenn ich Sie heute trotzdem zum schwungvollen Feiern des 700. Geburtstags unseres kleinen Staatswesens einlade, dann tue ich das vor allem deshalb, weil ich glaube, dass wir gerade heute, am 1. August 1991, durchaus Grund haben, in Dankbarkeit und mit Zuversicht diesen besonderen Tag und Abend feierlich zu begehen. Dankbarkeit und Zuversicht - lassen Sie mich dazu kurz einige wenige Gedanken anbringen.

Dankbarkeit. Ich weiss, wir Schweizer sind nicht allzu leicht zufriedenzustellen. Wir kritisieren, analysieren und sezieren Handlungen und Vorgänge bekanntlich mit grossem Eifer und beachtlicher Ausdauer ... Gefühle der Dankbarkeit für das gemeinsam in Vergangenheit und Gegenwart Erreichte zeigen wir hingegen nicht allzu oft und auch nicht allzu gerne. Oft gar verfallen wir stattdessen in unfruchtbare Nörgeleien und Kritikasterei.

Doch wir haben allen Grund, heute zufrieden und dankbar zu sein. In einer Zeit, wo selbst in Europa Völker und Regionen noch immer um wirtschaftliches Überleben und kulturelle und politische Eigenständigkeit zu kämpfen haben, leben wir Schweizerinnen und Schweizer in einem Land, das wir ohne Vorbehalt als unser Vaterland, unsere Heimat erleben dürfen. Es ist dies ein Gemeinwesen, das vielen, ja den meisten von uns Arbeit, Wohlstand und soziale Sicherheit bietet.

Ich weiss, zwar ist auch unsere Gesellschaft nicht frei von Widersprüchen, sozialen Ungerechtigkeiten und bedenklichen Entwicklungen. Doch welche Gesellschaft, welches Staatswesen hätte da nicht seine ungelösten Probleme? Selbstverständlich werden wir alles tun, um auch in Zukunft für eine gerechte und solidarische Schweiz zu arbeiten. Doch sagen wir es noch einmal: alles in allem können wir für den Platz, den uns Geschichte und Gegenwart zugewiesen haben, dankbar, sehr dankbar sein. Zeigen wir deshalb, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, diese Dankbarkeit heute, an diesem denkwürdigen Geburtstag unseres Landes, für einmal ohne falsche Scheu und ohne Wenn und Aber. Zuversicht. Wenn ich mich nicht täusche, haben wir Schweizerinnen und Schweizer auch mit dieser Gemütslage heutzutage einige Schwierigkeiten. Einige reden - vielleicht nicht ganz zu Unrecht - von einer schleichenden Sinn- und Identitätskrise der schweizerischen Gesellschaft. Die Frage der europäischen Integration hat dieses Gefühl der mangelnden Zuversicht weitherum sichtbar gemacht. Ist dies eine Angst vor Der Zukunft? Angst vor einer Zukunft, die mit Bestimmtheit in ganz Europa und in der Schweiz erhebliche Veränderungen bringen wird? Es würde sicher zu weit führen, hier an dieser Stelle allen diesen bedrängenden Fragen im einzelnen nachzugehen.

Gestatten Sie mir aber abschliessend dennoch ein offenes Wort. Es ist meine tiefe Überzeugung, dass die Schweiz des Jahres 1991 ihre Selbstzweifel überwinden und die grossen Probleme der Zukunft auch mit Gottes Hilfe meistern wird. Der Geist der Zuversicht wird uns dabei zweifellos eine wichtige Stütze sein.

Es kann dies allerdings keine künstlich herbeigeredete Zuversicht sein. Die Zuversicht, die ich meine, stützt sich einerseits auf unsere unbestreitbaren grossen Leistungen in Vergangenheit und Gegenwart, anderseits auf den immer wieder durchschlagenden Willen dieses Landes, in Zeiten der Herausforderung Neues zu wagen und die Probleme der Zukunft abwägend, aber zugleich entschlossen anzugehen. Es gibt keinen Grund, dass wir es diesmal anders halten sollten.

Ich wünsche Ihnen allen eine würdige und zugleich fröhliche Bundesfeier im Geist der Dankbarkeit und Zuversicht.

Letzte Änderung 30.11.2015

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