1990 - Ansprache von Bundespräsident Arnold Koller zum Nationalfeiertag

1. August 1990 - Es gilt das gesprochene Wort 

 

Der 1. August ist längst ein fröhliches und vergnügtes Fest, an dem sich jung und alt ohne viel patriotisches Aufheben gemeinsam freuen, in unserm Land frei und gut zu leben.

Und dennoch ist der 1. August auch ein Tag der Besinnung auf unsere Grundlagen und das, was die Eidgenossenschaft zusammenhält. An diesem Tag wird uns mehr bewusst als sonst, dass wir bei allem Drang nach Selbstverwirklichung in und von einer Gemeinschaft leben. Zu dem, was wir im Beruf, in der Gesellschaft und in der Politik jeden Tag entscheiden, muss die Seele kommen. Und das ist der Wille zur solidarischen Zusammengehörigkeit und gemeinsamen Freiheit.

Zusammengehörigkeit und Freiheit legitimieren unsere politische Ordnung, aber auch die Kritik an ihr. Wenn uns auch vieles selbstverständlich erscheint, unsere Einheit in der Vielfalt der Kulturen, Sprachen und Religionen ist keine Naturtatsache, sondern von unserer Zustimmung und Verantwortung getragen. Darum muss neben Hergebrachtem und Überliefertem immer auch Neues, sogar Visionäres Platz haben. Der freie und offene Meinungsaustausch ist sogar lebensnotwendig, wenn wir uns weiterbringen und nicht geistig obdachlos werden wollen.

Freiheit aber heisst Mitverantwortung für das Ganze, verlangt mitdenkende und mithandelnde Bürgerinnen und Bürger. Darum müssen wir auch unsere eigenen Schwächen und Schattenseiten im Auge behalten. Sie sind unübersehbar: oft sind wir selbstzufrieden, hin und wieder aber auch zu ungeduldig und kommen doch in wichtigen Fragen nur noch zäh voran. Jedenfalls bereitet es uns immer wieder Mühe, Aufgaben und Probleme gemeinsam zu meistern. Macht uns der errungene Wohlstand zu sehr zu schaffen? Bedenken wir jedoch: blosse Rechthaberei bringt letztlich alle um ihre Früchte, während durch Eintracht auch der Kleinste gedeihen kann. In dieser Stunde grosser Veränderungen rund um uns herum müssen wir uns dieser alten Lebenserfahrung erinnern.

Denn der Umbruch in Ost- und Mitteleuropa wird auch unser Land beeinflussen. Zudem steht der europäische Binnenmarkt vor der Tür. Seinen Herausforderungen müssen wir uns stellen. Die Schweiz kann einen Beitrag leisten beim Aufbau neuer europäischer Strukturen. Ein neues Europa wird vor allem dann segensreich sein, wenn es vom Geist des Föderalismus und der Gleichheit der Rechte und Pflichten geprägt ist. Gerade Kleinstaaten wie wir können nicht genug darauf verweisen. Der Bundesrat führt die gegenwärtigen Verhandlungen mit der EG denn auch genau in diesem Sinne.

Er ist überzeugt und vertraut darauf, dass unser Land aus seiner Geschichte und besonderen geographischen Lage heraus zu einem echten europäischen Engagement bereit ist. Dann wird Europa und seine Staatengemeinschaft auch unsere echten und vitalen Anliegen und Besonderheiten ernst nehmen. Auf die Wahrung unserer eigenen Identität kommt es uns bei aller notwendigen Öffnung im Rahmen der europäischen Integration zu Recht sehr an.

Wenn wir Schweizerinnen und Schweizer vielem Fremden zunächst einmal abwehrend gegenüberstehen, sollten wir uns doch zweier Dinge stets bewusst bleiben: das, was wir bisher erarbeitet haben, verdanken wir neben der eigenen Tüchtigkeit auch anderen Menschen, anderen Kulturen und Ländern. Vor allem aber weiss jeder, der einmal Solidarität erlebt hat: Wahre Menschlichkeit beginnt nicht bei sich selbst.

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, ich wünsche Ihnen einen frohen 1.August. Ich danke allen, die sich für unser Land einsetzen, für unsere Freiheit, unsere Zusammengehörigkeit und unser Wohlergehen. Stellen wir uns mutig und offen den grossen Herausforderungen unserer Zeit.

 

Letzte Änderung 30.11.2015

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