1989 - Ansprache von Bundespräsident Jean-Pascal Delamuraz zum Nationalfeiertag

1. August 1989 - Es gilt das gesprochene Wort 

Ich spreche heute, an unserem Nationalfeiertag, vom Gotthard aus zu Ihnen. Drei Gründe haben mich dazu bewogen. Der erste ist, dass es ohne Gotthard die Schweiz überhaupt nicht gäbe. Ohne Gotthard wären die Waldstätte ein in sich geschlossenes, der Armut ausgeliefertes und dadurch verletzliches Land geblieben.

Der Gotthard hat das Tor aufgetan. Durch ihn kamen Güter, Menschen und Ideen in unsere Täler. Er hat den Horizont geöffnet. Was schon vor 698 Jahren zutraf, gilt heute mehr denn je: Die Schweiz existiert, sie ist sich selbst, stark und unabhängig in dem Mass, als sie sich öffnet - geistig, wirtschaftlich, politisch, wissenschaftlich, menschlich.

Entscheidend für unsere Zukunft ist unsere Fähigkeit zur Öffnung. Ich sage das vor allem all denen, die glauben, die Schweiz könne weiterbestehen, wenn sie sich ohne Mut zu Neuem ängstlich auf sich selbst zurückziehe. Das ist nicht die Schweiz von morgen!

Der zweite Grund, warum ich zu Ihnen vom Gotthard aus spreche, ist der: Dieses harte, gebirgige Land liegt im Herzen Europas. Es ist, wie Michelet sagte, «das Wasserschloss Europas». In der Tat ist die Schweiz, von der aus Flüsse in alle vier Himmelsrichtungen fliessen, und die, wie die vier Landessprachen eindringlich zeigen, aus den wichtigsten kulturellen Strömungen Europas hervorgegangen ist, durch und durch europäisch.

Das Europa des 21. Jahrhunderts - das sozusagen vor der Tür steht - muss auf diesen Grundwerten aufbauen, auf den Werten, die für ganz Europa gelten, für Westeuropa, für Osteuropa, für die Europäische Gemeinschaft und für die Länder der EFTA.

Die Schweiz wird sich weiterhin und mit voller Kraft für den Bau dieses grossen Europas einsetzen. Dies ist eine Frage der Einstellung, unabhängig von den politischen und wirtschaftlichen Strukturen und den Institutionen, denen wir angehören oder nicht angehören, wie zum Beispiel der Europäischen Gemeinschaft.

Diese europäische Aufgabe, so faszinierend sie ist, darf uns jedoch nicht dazu verleiten, uns von der übrigen Welt abzuwenden, namentlich von der Dritten Welt, wo Hunger und Elend herrschen.

Schliesslich ist der Gotthard - und das ist mein dritter Grund - Symbol des Freiheitsdranges, der die Schweizerinnen und Schweizer von allem Anfang an und während siebenhundert Jahren beseelt hat.

In den vergangenen zwölf Monaten hat die Freiheit Fortschritte gemacht. Der Kampf für die Freiheit ist jedoch noch lange nicht zu Ende: Aus weiten Gebieten dieser Erde ist sie noch verbannt; an anderen Orten ist sie aufgeblüht, jedoch wieder erstickt worden.

Wir Schweizerinnen und Schweizer müssen mit wachem Sinn und voller Entschlossenheit die Freiheit bis zum letzten verteidigen, die Freiheit des Landes, die Freiheit des einzelnen, denn Gleichgültigkeit wäre das Ende. Stellen wir uns in den Dienst der Freiheit, damit sie, und mit ihr die Menschenrechte und der Friede, sich nach und nach in der ganzen Welt durchsetze.

Ich habe von Öffnung, Solidarität und Freiheit gesprochen. Von Öffnung, denn die Schweiz muss zwar immer in der Lage sein, sich zu verteidigen, aber sie darf sich nicht einigeln. Von Solidarität mit den am meisten Benachteiligten der Welt und in der Schweiz, denn auch unter uns leben solche Menschen, und ich denke ganz besonders an sie heute Abend. Von der Freiheit, denn sie ist unser höchstes Gut.

Diese Werte gehören nicht der Vergangenheit an, denn sie haben nichts von ihrer Aktualität verloren. Es liegt an uns, sie durch alle tiefgreifenden und sich beschleunigenden Veränderungen hindurch in die Zukunft zu tragen.

Das verlangt neue Betrachtungsweisen, wie wir die Welt von morgen besser gestalten wollen. Ich denke hier etwa an die, manchmal heftig geführten, Auseinandersetzungen um Ökonomie und Ökologie.

Wir leben in einer faszinierenden Zeit, in einer Zeit aber auch, die hohe Anforderungen stellt. Engagement, schöpferischen Sinn und Gestaltungskraft, das wünsche ich den Schweizerinnen und Schweizern aller Generationen, die heute Abend gemeinsam die Geburt unseres Landes feiern.

Letzte Änderung 30.11.2015

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