1988 - Ansprache von Bundespräsident Otto Stich zum Nationalfeiertag

1. August 1988 - Es gilt das gesprochene Wort 

Der Nationalfeiertag gibt uns Gelegenheit, einmal im Jahr grundsätzlich über den Zustand und die Fortentwicklung unseres Staatswesens nachzudenken. Was sind die Orientierungspunkte für unser politisches Handeln? Sind wir fähig, politische Probleme zu erkennen? Können wir sie lösen? Das sind mögliche Fragen, auf die ich heute eingehen möchte.

Der Bundesrat hat die Richtlinien für die Politik der laufenden Legislaturperiode dem Gesamtziel des qualitativen Wachstums untergeordnet. Damit geht er neue Wege. Er geht davon aus, dass Wirtschaftswachstum notwendig ist. Aber dieses Wachstum muss umweltverträglich sein. So soll verhindert werden, dass ein Teil der Früchte unserer Arbeit sinnlos verloren geht, indem wir damit Schäden zahlen, die wir mit unserem wirtschaftlichen Tun und unserem alltäglichen Verhalten angerichtet haben. Solche Fehlleistungen sollen und können wir uns nicht mehr leisten. Wir arbeiten ja nicht um der Arbeit willen, sondern um damit Mittel zu bekommen, mit denen wir unserer Freizeit, unserem Leben, Sinn und Inhalt geben können.

Mit den Legislaturzielen hat die Landesregierung die Richtung angegeben, in die wir künftig gehen wollen. Das kann für ein parlamentarisches Regierungssystem genügen. In unserem direktdemokratischen System müssen wir mehr tun: wir müssen dafür Mehrheiten im Parlament und im Volk und meistens auch noch unter den Kantonen finden. So ist Gewähr geboten, dass solche Zielsetzungen nicht Makulatur bleiben, sondern Rechtspraxis und lebendige politische Wirklichkeit werden.

Das ist nicht immer ganz einfach. Mehrheiten sind nur möglich, wenn der Wille zum Kompromiss und Konsensfähigkeit da sind. Beide haben schon bessere Zeiten gesehen. Bei einigen Entscheiden der jüngeren Vergangenheit haben Interessen von einzelnen und Gruppen zu oft Vorrang erhalten gegenüber dem, was für die Allgemeinheit und das Land dienlicher gewesen wäre. In einigen Fällen sind deshalb auch Nullösungen entstanden. Damit sollen nicht solche Entscheide in Frage gestellt werden. Mit negativen Beschlüssen löst man keine Probleme der Zukunft. Direkte Demokratie setzt Willen zur Zusammenarbeit voraus.

Vielleicht stossen wir gelegentlich auch an Grenzen der direkten Demokratie, Diese sind erreicht, wenn eine grösser werdende Zahl von Stimmberechtigten ihr Recht zu wählen und zu stimmen aus irgendwelchen Gründen nicht mehr als freiwillig erfüllte Pflicht wahrnehmen. Wenn diese Rechte nur von einer Minderheit benützt werden, sind Zufallsentscheide und Entscheide zugunsten von besonderen Interessen eher möglich. Wenn aber Leute von Entscheiden direkt betroffen sind, dann kämpfen Minderheiten für ihr gutes oder auch nur vermeintliches Recht bis zur allerletzten Instanz. Damit wird die Demokratie aber nicht leistungsfähiger und auch nicht attraktiver. Die Demokratie lebt nicht vom Nein einer Minderheit, die noch zur Urne geht. Und auch die Zukunft lässt sich mit «Nein» nicht gestalten

Gerade in einer Zeit grosser Veränderungen in Europa müssen wir uns nicht nur gut überlegen was die direkte Demokratie wert ist, sondern auch zeigen, dass wir unsere Probleme lösen können. Vielleicht haben wir die Volksrechte auf zu viele Detailentscheide ausgedehnt, die heute oft komplex und schwer verständlich sind. Sicher müssen wir aber versuchen die Politik transparenter zu machen und auch konkret darstellen, welches unsere Ziele sind.

Die Landesregierung hat mit ihren Legislaturzielen einen Weg vorgezeichnet. Bürgerinnen und Bürger sollen wissen, wohin die Reise geht und was sie kostet. Dafür sorgt der mit den Zielen gekoppelte Finanzplan. Damit schaffen wir Massstäbe, die das Volk benötigt, um politische Leistungen messen zu können.

Der heutige Nationalfeiertag soll Anlass sein, über diese Probleme nachzudenken. Er soll aber auch Ansporn sein, in der Zukunft die eigene Verantwortung für unseren Staat, für unsere Gemeinschaft und unser Land wieder vermehrt wahrzunehmen.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen im Namen der Landesregierung einen schönen Nationalfeiertag.

Letzte Änderung 30.11.2015

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