1985 - Ansprache von Bundespräsident Kurt Furgler zum Nationalfeiertag

1. August 1985 - Es gilt das gesprochene Wort

 

Wir tun uns manchmal schwer mit unseren Geburtstagen, sei es der eigene, sei es der Gründungstag der Eidgenossenschaft. Einzelne behaupten denn auch, das alles habe keinen Sinn und werde vom Bürger auch nicht gewünscht. Mir scheint, dass wir unserer eidgenössischen Existenz ebenso wenig entfliehen können wie der persönlichen, auch wenn wir im privaten und staatlichen Bereich zwischen Hoffen und Bangen hin- und hergerissen sind.

Am Anfang des Bundes stand und steht der Wille zur Freiheit. Das haben unsere Altvordern verspürt, als sie sich vom Joch fremder Vögte befreiten. Das verspüren auch wir, wenn wir mit einem Blick in die Welt an die Hunderte und Aberhunderte von Millionen Menschen denken, die frei sein möchten und nicht frei sein können. Als ich am vergangenen Samstag vom Tellspiel heimkehrte, empfand ich einmal mehr, dass die Geschichte unserer Eidgenossenschaft auch Bestandteil unserer persönlichen Geschichte ist. Ohne falsches Pathos zeigten junge und alte Laienschauspieler aus dem Urnerland, deren Vorfahren Mitgründer unseres Bundes waren, dass der Freiheitskampf nicht mit den Freiheitskriegen abgeschlossen ist, sondern jedem von uns als Auftrag für ein ganzes Leben mitgegeben wird. «Wir sollten so leben und handeln, dass man uns Wilhelm Tell zutraut», sagte der Urner Landammann. Nur frei kann der Mensch all seine Talente zur Entfaltung bringen.
Die Grundrechte finden in der Einmaligkeit und Würde jeder Person ihre Verankerung; Diktaturen hier ihre Verurteilung. Es gibt keine «Vorrechte» nach Rasse, Stand oder Religion. Frei sein verpflichtet. Wir wissen um die persönliche Verantwortung, das uns Zumutbare selbst zu erfüllen. Was ist dem Einzelnen zumutbar? Wo braucht er Hilfe vom Miteidgenossen? Unser Gesellschafts- und Wirtschaftssystem wurde immer komplizierter. Das führte zu neuen Aufgaben für Gemeinde, Kanton und Bund. Es ist uns aufgetragen, Mass zu halten, damit durch das Zusammenwirken von freiwillig getragener persönlicher Verantwortung und institutionalisierter Verantwortlichkeit, gemäss der vom Volk geschaffenen Rechtsordnung, ein tragfähiges Fundament der schweizerischen Staatsgemeinschaft erhalten und in jeder Generation neu verstärkt werden kann. «Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen und Gefahr» bleibt aktuell in seiner nationalen und internationalen Dimension für uns Schweizerinnen und Schweizer.

Bundesfeier! Der Name sagt es. Wir gehören zum Bund der Eidgenossen. Das Rütli kommt uns in den Sinn; 700 Jahre Eidgenossenschaft; die Geschichte mit ihrem eigenen Stimmrecht, das es zu beachten gilt, wenn wir heute schwierige Fragen lösen müssen und den Weg in die Zukunft abstecken, den kommende Generationen beschreiten werden. Als Bürger einer Gemeinde, eines Heimatkantons, sind wir Schweizerinnen und Schweizer, im Eid verbunden. Was die Eidgenossenschaft entstehen und bis heute erhalten liess, war ein Treueschwur, ein Wort, das jeder einzelne seinem Bündnispartner, den Miteidgenossen gab und gibt, im Vertrauen auf Gott und mit dem festen Willen, gemeinsam alles zu tun, um frei und unabhängig zu bleiben, um eine gerechte Ordnung zum Wohle aller zu schaffen. So steht es in unserer Verfassung. Wenn auf Bergen und Hügeln die Feuer brennen, erinnern sie uns an die Mahnung zur Hilfeleistung in Gefahr, die während Jahrhunderten mit diesem Zeichen verbunden war. Gleichzeitig verspüren wir eine stille Freude, dass wir auch heute in Freiheit über unser Tun und Lassen entscheiden können.

Wir wissen um die Grenzen der staatlichen Macht. Wir spüren, dass frei nur bleibt, wer seine Freiheit gebraucht und dafür Zeugnis ablegt. Und wenn in der Präambel des neuen Verfassungsentwurfes zu lesen ist, dass die Stärke des Volkes sich am Wohl der Schwachen misst, dann verbirgt sich in diesen wenigen Worten der Auftrag an uns alle zur eidgenössischen Solidarität.

Auch international gilt es, für diese Freiheit Zeugnis abzulegen. Ohne Freiheit kein Friede. Am Frieden der Welt mitzuwirken, Streite schlichten, haben wir im Laufe der Jahrhunderte gelernt. Für Schiedsverfahren uns selbst zur Verfügung zu stellen, gehört zur staatspolitischen Praxis. Mitzuhelfen, wo die Not am grössten ist, lehren uns das nationale und internationale Rote Kreuz, die Hilfswerke, der einzelne Bürger mit seinem Einsatz für den Nächsten.

Mir scheint, dass die Stimme der Schweiz, einer freien Nation mit all ihren Stärken und Schwächen, erfüllt vom tiefen Respekt vor den Grundrechten jedes Menschen, sich in der Völkerfamilie, deren mitverantwortliches Glied wir sind, noch deutlicher vernehmen lassen sollte. Das ist mit ein Grund für den Entscheid von Bundesrat und Parlament, Volk und Ständen den Eintritt in die Vereinten Nationen vorzuschlagen. Nicht überheblich, aber selbstbewusst. Wir haben eine eidgenössische Aufgabe im nationalen und internationalen Bereich.

Die Tatsache, dass die UNO sehr oft Uneinigkeit widerspiegelt, entspricht der Realität unserer Welt. Erinnern wir uns in diesem Zusammenhang daran, dass der schweizerische Bundesstaat heutiger Prägung auch nicht über Nacht gewachsen ist. Die Einsicht, dass Krisen nur zu lösen sind, wenn man die Interessen aller Betroffenen abwägt und ausgleicht, braucht überall eine lange Reifezeit. Mit einem von Achselzucken begleiteten weiteren Abseitsstehen dort, wo es um den Abbau der Spannungen, die Entschärfung der Krisen dieser Welt geht, wie bei der UNO, erbringen wir nicht den eidgenössischen Beitrag zu diesem Reifeprozess, zu dem uns die demokratischen Institutionen der Schweiz, zu dem uns auch unsere Geschichte befähigen.

Und nun mit Zuversicht ans Werk! Es ist und bleibt eine Herausforderung und Chance, Eidgenosse zu sein. Für jeden von uns gibt es genügend Aufgaben, die ein verantwortungsbewusstes Handeln des einzelnen und ein partnerschaftliches Zusammengehen aller Bürger erfordern. Wo gibt es Herausforderungen? Ich nenne als Beispiele nur die Überwindung der Arbeitslosigkeit, die grossen Aufgaben im Bereiche von Bildung und Forschung, die technischen Neuerungen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Hier zählen wir ganz besonders auf unsere Jugend. Solidarität unter den Generationen heisst, dass wir den jungen Mitbürgern Entfaltungsmöglichkeiten schaffen; denn nur in einer Gesellschaft, in der neben Altbewährtem immer wieder Neues entsteht, gibt es Arbeitsplätze mit Zukunft. Solidarität bedeutet aber auch, dass wir unsere älteren Mitbürger nicht vergessen, unsere Kranken und Behinderten, und dass wir zu unseren Sozialwerken Sorge tragen. Ich spreche von der nach wie vor zentralen Bedeutung der Familie und der grossen Chance einer partnerschaftlich verstandenen Ehegemeinschaft, wie es das moderne und doch traditionsbewusste neue Familienrecht vorsieht. Ich denke auch an die Umwelt, für die jeder einzelne, aber auch Bund, Kantone und Gemeinden noch mehr Verantwortung übernehmen müssen. Nicht vergessen sei unsere Mitarbeit im werdenden Europa, in der Völkergemeinschaft überhaupt.

All diesen Herausforderungen können wir wirksam begegnen, wenn wir uns auf die Geschichte unserer Eidgenossenschaft zurückbesinnen, und wenn wir die Schweiz von heute miteinander zu leben versuchen: Aktiv, durch persönliches Mitgestalten, unter Nutzung unserer Freiheiten; mit tiefem Respekt vor dem Mitmenschen; tolerant und lernbereit und damit belastbar für Veränderungen. Eidgenosse sein heisst doch wohl auch in Zukunft sich selbst viel zumuten und miteinander unsere Heimat frei und unabhängig erhalten.

 

Letzte Änderung 30.11.2015

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