Staatsbesuch von Emmanuel Macron

Bern, 15.11.2023 - Rede von Bundespräsident Alain Berset anlässlich des Staatsbesuchs des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron – Es gilt das gesprochene Wort.

Freundinnen und Freunde von Voltaire und Rousseau,
Liebhaberinnen und Liebhaber der Sprache und der Wörter,
sehr geschätzte Nachbarn und Nahestehende,

Jean-Luc Godard, der wie kein zweiter für das Kino steht, verkörperte auch die Beziehungen zwischen Frankreich und der Schweiz ­- bis zu dem Grad, dass sich unsere beiden Länder bisweilen in aller Freundschaft darüber streiten, wo genau er seine Wurzeln hatte. Jean-Luc Godard, dieses wahrhaftige franko-schweizerische Genie, Regisseur Dutzender Filme und Urheber Hunderter Aphorismen, hat einmal gesagt:

«Einsamkeit ist nicht Isolation. Man ist immer zwei in einem. Es gibt die anderen in dir.» / « La solitude n'est pas l'isolement. On est toujours deux en un. Il y a les autres en soi ». Gelegentlich wird der Schweiz ihre Isolation vorgeworfen. Und man konnte mit Fug und Recht auch Jean-Luc Godard einen Vorwurf machen - den Vorwurf, dass er sich nicht immer ausreichend klar ausgedrückt hat.

Dennoch: Seine Gedanken helfen uns zu verstehen, dass die Schweiz, allein in der Mitte Europas, gar nicht so isoliert ist; denn in ihr findet man viel von dem, was Frankreich ausmacht.  

Freundinnen und Freunde aus Frankreich, wir stehen in gewisser Weise sogar in Ihrer Schuld. Die Schweiz ist Frankreich dankbar, dass es einem Teil von ihr eine derart schöne Sprache und eine derart reichhaltige Kultur vererbt hat; noch dankbarer ist unser Land aber dafür, dass es dank Frankreich in der kurzen Spanne von rund fünfzig Jahren zu einem modernen Staat geworden ist.

Und das haben wir nicht vergessen - dem Diktum von Benjamin Constant, einem weiteren franko-schweizerischen Denker, der einmal schrieb, dass «die Dankbarkeit ein kurzes Gedächtnis» habe, zum Trotz.

Ja, wir haben eine politische Schuld; sie geht auf das Jahr 1798 zurück, als sich das Zeitalter der Aufklärung zu Ende neigte.

In jenem Jahr erfolgte die französische Invasion; sie war von der Waadtländer Bevölkerung, die sich von den Berner Besatzern befreien wollte, herbeigesehnt worden. Und sie ermöglichte es uns, die Revolution zu erleben und für einige Zeit die Freuden der Republik zu geniessen.

Diese Republik wurde als helvetisch bezeichnet, ein Singularismus, der die gemeinsame keltische Herkunft unserer entfernten Vorfahren andeutet.

Die Helvetische Republik importierte zwei Ideen, die bei uns bis dahin unbekannt waren: die Gleichheit und die Zentralisierung, die ersten Zutaten der Moderne. Aber diese Ideen waren zunächst auch Quell interner Konflikte.

Der grosse Reformator der Schweiz war natürlich Napoleon, der 1803 ein Grundgesetz, die Mediationsakte, ausarbeitete. Napoleon erklärte, dass der föderalistische Staatsaufbau der nun befriedeten Schweiz naturgegeben sei, und legte den Grundstein für einen föderalistischen Staat.

Landamman genannt, Prototyp des Bundesrates, war sein erster Präsident ein Freiburger, Graf Louis d'Affry. Man hätte es mir niemals verziehen, wenn ich ihn an dieser Stelle nicht erwähnt hätte.

Nach seiner Krönung nahm Napoleon den Kaisertitel an, behielt aber trotzdem den Titel Mediator der Schweizerischen Eidgenossenschaft, was dem Ganzen einen zusätzlichen Hauch von Distinktion verlieh.

Nach der Niederlage Napoleons blieb die Schweiz empfänglich für die revolutionären Ideale der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die sich von Frankreich aus in ganz Europa verbreiteten.

Unsere moderne Verfassung von 1848 wurde übrigens nur wenige Monate nach der Ausrufung Ihrer Zweiten Republik durch Alphonse de Lamartine verabschiedet, einem Abgeordneten und Dichter, der die Monarchie aufforderte, endlich innezuhalten - und abzudanken.

Diese Verfassung gewährleistete die Souveränität sowohl des Staates als auch der Kantone.

Ja, seit 175 Jahren üben wir uns in «Gleichzeitigkeit». Ich muss Ihnen auch noch von den immateriellen und intensiven Verbindungen erzählen, die unsere beiden Länder miteinander verbinden.

Wir teilen mit Frankreich die Sprache und die Kultur.

Diese kulturelle Verbindung hat die Schweiz gefestigt, indem sie Frankreich einige ihrer grossen Künstler geliehen hat: Félix Vallotton, Alberto Giacometti, Le Corbusier, Arthur Honegger, Philippe Jaccottet, Michel Simon.

Es sind dies Darlehen, die ausnahmsweise zinslos gewährt wurden.

Sie werden es mir nicht übelnehmen, wenn ich den Regionalismus noch weiter kultiviere, indem ich zwei Freiburger Figuren erwähne, die in Paris von sich reden machten.

Zum einen Jean Tinguely, dadaistischer Dandy, Goldschmied der Ketten und Motoren, schelmischer Dekorateur von Brunnen, von denen einer von einem ehemaligen Präsidenten der Republik für seine Gemeinde Château-Chinon in Auftrag gegeben wurde.

Zum anderen die Urenkelin des oben genannten Grafen d'Affry, die Malerin und Bildhauerin Marcello, deren Statue der Pythia die grosse Treppe der Opéra Garnier ziert.

Das Verstörende an der Kunst ist, dass sie oftmals die Wirklichkeit vorwegnimmt. «Die Lage ist ernst» / « L'heure est grave ». Mit diesen Worten zog der Schweizer Schriftsteller Blaise Cendrars freiwillig in den Ersten Weltkrieg, in dem er für Frankreich seine rechte Hand, mit der er schrieb, verlieren sollte.

Ja, die Lage ist ernst und es bedarf heute nicht mehr der Sensibilität eines Dichters, um zu der Feststellung zu gelangen, dass unsere Welt, die bereits durch eine Pandemie geschwächt ist, blutet: ein brutaler Krieg in der Ukraine, eine Massenflucht der Bevölkerung aus Berg-Karabach, die Terror-Angriffe gegen Israel, der Tod Tausender Zivilistinnen und Zivilisten und eine humanitäre Katastrophe in Gaza sowie der starke Anstieg des Antisemitismus und des Rassismus in unseren Gesellschaften.

Es sind dies alte Konflikte, die in jüngster Zeit durch die vereinfachenden und binären Sichtweisen nicht nur derjenigen, die sie nähren und aufrechterhalten, sondern auch derjenigen, die sie beobachten und kommentieren, verschärft wurden.

Wir sind eindeutig weit entfernt von 1798 und der Aufklärung, in der von einer einzigen Sprache, der Sprache der Vernunft, geträumt wurde.

Aber es gibt sicherlich politische Lösungen, und die derzeitige Ohnmacht der internationalen Gemeinschaft mit ihren wohldurchdachten, aber leider manchmal wirkungslosen Verträgen stellt kein unabwendbares Schicksal dar.

Die Energie, die Sie an den Tag legen und mit der Sie weltweit Ihre kategorische Weigerung demonstrieren, etwas zu akzeptieren, was anderen als unvermeidlich erscheint, ist in dieser Hinsicht ein Beispiel, dem wir folgen sollten.

Als Fürsprecherin von Henry Dunant steht die Schweiz natürlich an der Seite Frankreichs, am Krankenbett des Dialogs und des Friedens, diese stets zu fördern versucht hat.

In diesem Zusammenhang möchte ich, auch wenn es mir widerstrebt, kriegerisches Vokabular zu verwenden, dass wir weiterhin gemeinsam einen unerschütterlichen Glauben an den Dialog als Waffe zum Aufbau der Institutionen und der Kultur, welche die Menschheit ausmachen, an den Tag legen.

Es war Frédéric Dard, der französischste aller Schweizer Künstler, der die ultimative philosophische Frage stellte: «Hat es einen Franzosen im Saal?» / « Y-a-t-il un Français dans la salle ? ». Heute hätten wir das grosse Vergnügen gehabt, ihm zu antworten: «Ja, und sogar mehrere».

Und Sie sind unsere Verwandten in der Geschichte, da wir alle von jenen Glorreichen abstammen, die von Cäsar besiegt wurden, von Divico in Bibracte und, sechs Jahre später, von Vercingetorix in Alesia. Dieses Band der Vetternschaft ist auch ein sehr altes Band der Freundschaft, wenn wir uns daran erinnern, wie Petisuix zur selben Zeit Asterix und Obelix einen herzlichen Empfang bereitete.

Liebe Freundinnen und Freunde aus Frankreich, haben Sie keinen Zweifel: Sie sind in Helvetien immer willkommen.


Adresse für Rückfragen

Christian Favre, Co-Leiter Kommunikation EDI, +41 79 897 61 91


Herausgeber

Generalsekretariat EDI
http://www.edi.admin.ch

https://www.admin.ch/content/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-98630.html