Bundesrat verabschiedet Bericht zur politischen Teilhabe von Schweizerinnen und Schweizern mit einer geistigen Behinderung

Bern, 25.10.2023 - Dauernd urteilsunfähige Personen, die unter umfassender Beistandschaft stehen, werden in der Schweiz vom Stimm- und Wahlrecht ausgeschlossen. Diese Regelung entspricht nicht mehr vollumfänglich den gewandelten grund- und völkerrechtlichen Standards. Zu diesem Schluss kommt der Bericht «Politische Teilhabe von Schweizerinnen und Schweizern mit einer geistigen Behinderung», der vom Bundesrat an seiner Sitzung vom 25. Oktober 2023 verabschiedet wurde.

Der Bundesrat erfüllt mit dem Bericht das Postulat 21.3296 Carobbio. Dieses fordert eine Auslegeordnung über mögliche Massnahmen, damit Menschen mit einer geistigen Behinderung uneingeschränkt an der Politik teilhaben können.

Nach Bundesrecht werden Schweizerinnen und Schweizer vom Stimm- und Wahlrecht ausgeschlossen, wenn sie wegen einer dauernden Urteilsunfähigkeit unter einer umfassenden Beistandschaft stehen oder durch eine vorsorgebeauftragte Person vertreten werden. Von einem solchen Ausschluss sind nach Schätzungen rund 16 000 Schweizerinnen und Schweizer betroffen.

In ihrer heutigen Form führen die Ausschlüsse vom Stimm- und Wahlrecht zu Spannungen mit der Rechtsgleichheit und völkerrechtlichen Verpflichtungen. Einerseits könnten Personen vom Stimmrecht ausgeschlossen werden, die einen eigenständigen politischen Entscheid treffen können. Andererseits gibt es Personen, die das Stimm- und Wahlrecht behalten, nachdem sie dauernd urteilsunfähig geworden sind. In der Praxis sind überdies deutliche Unterschiede von Kanton zu Kanton zu beobachten, was zu einer Ungleichbehandlung von Menschen mit einer geistigen Behinderung bezüglich ihrer politischen Rechte führt.

Der Stimmrechtsausschluss steht auch in einem völkerrechtlichen Spannungsfeld. So verlangt etwa die Behindertenrechtskonvention, der die Schweiz im Jahr 2014 beigetreten ist, dass ihre Vertragsstaaten die politischen Rechte von Menschen mit einer Behinderung garantieren. Ob diese Formulierung die Möglichkeit von Ausnahmen und damit Stimmrechtsausschlüssen zulässt, wird von Fachleuten unterschiedlich beurteilt.

Der Bericht erörtert angesichts dieser Probleme zwei Handlungsoptionen: die Aufhebung des Stimmrechtsausschlusses und die spezifische Überprüfung der Urteilsunfähigkeit in jedem einzelnen Fall. Beide Optionen haben Vor- und Nachteile.

Aus Sicht des Bundesrates sind Stimmrechtsausschlüsse nicht a priori unzulässig. Es besteht ein legitimes öffentliches Interesse, Personen vom Stimmrecht auszuschliessen, die politische Entscheide nicht verstehen und keinen eigenständigen Willen bilden können. Auf der anderen Seite gebieten die Rechtsgleichheit und das Verbot von Diskriminierungen, dass niemandem wegen einer Behinderung Rechte entzogen werden. Ob Stimmrechtsausschlüsse nötig sind, ist letztlich eine verfassungspolitische Frage. Falls die bestehende Regelung angepasst werden sollte, müsste dies aus Sicht des Bundesrates über eine Änderung der Bundesverfassung geschehen.

Der Bericht erörtert im Weiteren die behördlichen Hilfestellungen, damit Menschen mit einer Behinderung ihr Stimm- und Wahlrecht wahrnehmen können. Das Informationsangebot des Bundes trägt den Bedürfnissen von Stimmberechtigten mit einer Behinderung in vielerlei Hinsicht Rechnung (Webseite ch.ch, barrierefreie Dokumente, Abstimmungsvideos in Gebärdensprache, Wahlanleitung in Leichter Sprache). Zu den Nationalratswahlen 2019 und 2023 hat der Bund im Rahmen von Pilotversuchen je eine Wahlanleitung in Leichter Sprache herausgegeben, die den Vorgang des Wählens erklärt. Das diesjährige Angebot wird nach den Wahlen evaluiert.

Die Abstimmungserläuterungen des Bundesrates werden behördenseitig nicht in Leichter Sprache angeboten. Sowohl der Bundesrat als auch der Nationalrat lehnten eine entsprechende Motion ab (Motion Rytz 18.4395). Die Abstimmungserläuterungen müssen den rechtlichen Anforderungen der Vollständigkeit, Sachlichkeit, Transparenz und Verhältnismässigkeit genügen. Sie lassen sich nicht beliebig vereinfachen, weil die Behörden sonst die gesetzlichen Anforderungen nicht erfüllen können. Nach Ansicht des Bundesrates soll überdies weiterhin der Grundsatz gelten, wonach alle Stimmberechtigten von den Behörden die gleichen Informationen erhalten.

Für die politische Teilhabe von Menschen mit einer Behinderung ist auch das Verfahren der Stimmabgabe wichtig. Die briefliche Stimmabgabe sorgt dafür, dass ihnen genügend Zeit für die Stimmabgabe zur Verfügung steht und sie sich bei Bedarf unterstützen lassen können. Insgesamt stellt der Bericht fest, dass auf Bundesebene kein unmittelbarer Gesetzgebungsbedarf besteht, um Menschen mit einer geistigen Behinderung bei der Wahrnehmung des Stimm- und Wahlrechts zu unterstützen.


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