175 Jahre Bundesverfassung

Bern, 12.09.2023 - Rede von Bundespräsident Berset anlässlich von 175 Jahren Bundesverfassung. Es gilt das gesprochene Wort.

Die Gründung der modernen Schweiz war ein Wurf, ein Wagnis, ein Akt der Zukunftseroberung. Ein scharfer Kontrast zu dem, was wir heute allzu oft erleben: Das vorsichtige Verwalten eines Status quo, dessen Status langsam erodiert.

Die erste Bundesverfassung ist ein markanter Kontrapunkt zum gegenwärtigen Zeitgeist, der von Besitzstandwahrung, manchmal gar von Pessimismus geprägt ist – also von der weit verbreiteten Überzeugung, dass die besten Zeiten hinter uns liegen.  

Der Aufbruch von 1848 lässt uns erkennen, was die liberale Demokratie im Kern ist: Die Staatsform des Optimismus; der menschlichen Würde und der Freiheit; des Fortschrittsglaubens, mehr noch: des Fortschrittswillens.Der unverrückbaren Überzeugung, dass der demokratische Rechtsstaat mit seinen Institutionen zu den grössten Errungenschaften der Menschheitsgeschichte zählt.

Die Rolle von Ulrich Ochsenbein

Diese Überzeugung verkörperte der Präsident der Verfassungskommission, Ulrich Ochsenbein. Er erkannte früh, dass der neue Bundesstaat nur Erfolg haben konnte, wenn es gelingen würde, die Verlierer des Sonderbundskrieges einzubinden. Es war Ochsenbein – die militärische Nummer zwei hinter General Dufour –, der in der Politik eben gerade nicht die Fortsetzung des Bürgerkrieges mit anderen Mitteln sah, sondern das exakte Gegenteil: Nämlich eine Möglichkeit, mittels einer fein austarierten Balance zwischen Protestanten und Katholiken, zwischen Zentralisten und Verfechtern kantonaler Souveränität, eine Situation zu schaffen, mit der fortan alle leben konnten. Deshalb kämpfte Ochsenbein vehement für die Einführung eines Zwei-Kammersystems – und das in weiser Voraussicht schon seit 1845.

In Ulrich Ochsenbein vereinten sich strategische Intelligenz und Menschlichkeit, auch auf dem Schlachtfeld. Er überzeugte seine Soldaten davon, Luzern nicht niederzubrennen. Er wusste, dass die Verlierer dies nie verzeihen würden. Ochsenbein erkannte also früh – früher als andere –, dass das Verbindende viel grösser war als das Trennende. Und das in einer Zeit, in der das nicht ganz so leicht zu erkennen war, wie es heute zu erkennen ist. Oder zu erkennen wäre... 

Dieses politische Sensorium, dieser unaufgeregte Weitblick: Wer könnte bestreiten, dass die Schweiz beides auch heute, im unsicheren, ja bedrohlichen 21. Jahrhundert gut gebrauchen könnte? Das gilt auch für die Beherztheit, mit der die Verfassungsmacher an die Sache gingen, für das beeindruckende Tempo, mit dem sie ihr Projekt vorantrieben. Sie nutzen den Umstand, dass die grossen Mächte mit Unruhen und Aufständen beschäftigt waren und schufen die moderne Schweiz in nur 51 Tagen. 1848 war allerdings ein Aufbruch mit schweren Konstruktionsfehlern. Unsere vermeintliche Musterdemokratie war nicht mal eine Vierteldemokratie. Sie schloss Frauen, Juden und Arme aus. Zum Teil sehr sehr lange.

Die Schweizer Geschichte war und ist eine Geschichte fortschreitenden, hart erkämpften Inklusion immer weiterer Bevölkerungskreise in unsere demokratische Kultur. Und dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen.

Lob des Kompromisses

Unser Bundesstaat entstand in einem Europa in Aufruhr, einem Europa, in dem die konservativen Grossmächte der Schweiz offen mit militärischer Intervention drohten. Die Schweiz liess sich nicht einschüchtern. Und war die Hoffnungsträgerin für alle jene liberalen Kräfte in Europa, die sich durch die Niederschlagung der Revolutionen in ihren eigenen Ländern zurückgeworfen sahen. Eine bessere Zukunft schien damals in ganz Europa möglich. In der Schweiz wurde sie Realität. 

Eine bessere Zukunft ist auch heute möglich. Obwohl die geopolitischen und gesellschaftlichen Umstände heute auch hierzulande weniger günstig sind, als sie es in den letzten Jahrzehnten waren. Engagieren wir uns für eine Schweiz, die sich nicht erst bewegt, wenn alle Varianten der Verzögerung durchgespielt sind – und es schon fast zu spät ist. Feiern wir diesen Geist des starken, des zukunftsträchtigen Kompromisses, der unsere Institutionen, der dieses Parlament hier geschaffen hat.

1848 ist eine Inspiration, weil uns diese historische Zäsur zeigt, dass ein Kompromiss nicht der Weg des geringsten Widerstandes sein muss, als der er heute oft verunglimpft wird. Sondern dass ein Kompromiss oft der einzig gangbare Weg in eine gemeinsame Zukunft ist.


Adresse für Rückfragen

Kommunikation GS-EDI, Tel. +41 58 462 85 79, media@gs-edi.admin.ch



Herausgeber

Eidgenössisches Departement des Innern
http://www.edi.admin.ch

https://www.admin.ch/content/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-97700.html