Rede von Bundespräsident Alain Berset zum 1. August

Bern, 31.07.2023 - Es gilt das gesprochene Wort

Es ist wunderbar Bundesrat zu sein, es gibt keinen schöneren Beruf.

Aber, ganz ehrlich, es gibt ein paar Dinge, die ich nächstes Jahr nicht vermissen werde.

-       Die Medienkonferenz zu den Prämien, zum Beispiel.

-       Oder die Frühstückssitzungen mit den Parteien um 7 Uhr morgens während der Session.

-       Oder wenn man vor der Bundesratssitzung das Handy einschliessen muss. Und es vier Stunden später wieder hervorholt – mit 100 verpassten Nachrichten.

Nicht auf diese Liste gehören die 1. August-Reden. 21 Reden zum 1. August habe ich in den letzten 11 Jahren gehalten. Nun kommen die Reden 22 bis 24 dazu (Aegerten, Lausanne und Domdidier). Ich habe einen vollen Arbeitsmonat lang 1. August gefeiert. Schön nicht?

In Middes, Altdorf, Rümlang, Stansstad, Sursee, La Chaux-de-Fonds, Lindau, Sierre, im Landesmuseum, auf dem Julier, in Rorschach, Lausanne, Belfaux, Euschels, auf dem Rütli, in Yverdon, Bellinzona, Gruyères, Luzern, Stein am Rhein und Vully.

Und weil es das letzte Mal ist, dass ich als Bundesrat eine solche 1. August-Rede halten kann, werde ich die 1. August-Reden der vergangenen 11 Jahre in den nächsten sechs Stunden alle nochmals halten – am Stück.

Im Ernst: ich halte gerne 1. August-Reden. Weil ich die Schweiz mag. Weil ich überzeugt bin von ihren Stärken und dass wir die Schweiz noch erfolgreicher, gerechter, solidarischer machen können. Weil ich Optimist bin. Trotz allem.

Wir feiern in diesem Jahr den 175. Geburtstag unserer Verfassung. Ein Dokument des Optimismus, des Selbstbewusstseins, der Zukunftsfreudigkeit. Obwohl der Zeitgeist von heute eher geprägt ist von Verunsicherung.

Dafür gibt es – leider – gute Gründe: In Europa herrscht Krieg. Wieder. Und ein Ende ist nicht absehbar.

Dazu kommen weitere Krisen. Die Klimakrise, die steigenden Preise, die steigenden Kosten für die Gesundheit, die zunehmende Ungleichheit in vielen Ländern.

Und wir müssen schauen, dass wir angesichts der vielen Krisen, nicht den Mut verlieren.

Hier kommt wieder unsere Verfassung ins Spiel. Denn auch sie entstand in einer schwierigen Zeit, nach einem Bürgerkrieg. Nach einem Kulturkampf.

Und trotzdem bewiesen die Verfassungsväter Mut und Zuversicht. Trotzdem vertraten sie unbeirrt die Überzeugung, dass wir unser Schicksal selber bestimmen können.

Sicher: Die Verfassung von 1848 hatte noch grosse Lücken. Frauen waren ausgeschlossen, ebenso Menschen am Rand der Gesellschaft. Aber diese Verfassung legte die Basis für eine erfolgreiche Schweiz, die sich ständig weiterentwickelt.

Die entscheidenden Fragen von heute sind dieselben wie jene von 1848:

·         Was ist die Schweiz?

·         Was kann sie sein?

·         Was soll sie sein?

Die Verunsicherung der Gegenwart kann uns im Beantworten dieser Fragen auch wieder kreativer machen. Wenn wir die Chancen höher gewichten als die Risiken. Das ist kein Plädoyer für Naivität – im Gegenteil: Realistisch sind wir, wenn wir die Gefahr erkennen, dass zu viel Angst die Probleme noch vergrössert.

Engagieren wir uns also für eine reformfreudige Schweiz – denn Reformen stärken uns,

Engagieren wir uns für eine anpackende Schweiz. Die den «service public» für das digitale Zeitalter neu erfindet, eine Aufgabe, die dem Bau der Eisenbahn im jungen Bundesstaat gleicht.

Engagieren wir uns für sichere Renten, von denen alle würdig leben können.

Engagieren wir uns dafür, dass die jungen Menschen in diesem Land gute Perspektiven haben.

Engagieren wir uns für Gleichberechtigung. Für unsere universellen Grundrechte, die für alle gelten. Menschenwürde, persönliche Freiheit, Schutz vor Diskriminierung.

Setzen wir uns ein für eine starke Schweiz, die das kreative und wirtschaftliche Potenzial der Frauen ausschöpft.

Unterstützen wir eine Schweiz, die den wissenschaftlichen Fortschritt feiert. Wir brauchen Expertinnen und Experten – heute mehr denn je.

Und arbeiten wir für eine Schweiz, die ihre Mehrsprachigkeit als Chance begreift. Und nicht als lästige Bürgerpflicht.

Schliesslich und vor allem: Engagieren wir uns für eine Schweiz, die das Potenzial der Zusammenarbeit ausschöpft, das uns unsere politische Kultur ermöglicht. Für eine Schweiz die alle einbezieht in die Diskussion.

Kompromiss, Ausgewogenheit, Verhältnismässigkeit: Die oft verlachten Schweizer Tugenden sind nicht einfach der Weg des geringsten Widerstandes – vielmehr schaffen diese multi-perspektivischen Prozesse oft Lösungen, mit denen alle gut leben können.

Setzen wir also auf unsere grösste Stärke: Auf eine offene, demokratische und anständige Debatte, an der alle teilnehmen können. Auf unsere politische Kultur, in der Gegner keine Feinde sind, sondern Bürgerinnen und Bürger, die die Dinge anders sehen mögen, die sich aber für das genau Gleiche einsetzen wie wir selber: Für eine erfolgreiche, faire, zukunftsfähige Schweiz.

Vielleicht ist das die Chance der allgemeinen Verunsicherung: Dass wir uns wieder stärker bewusstwerden, wie sehr wir aufeinander angewiesen sind.


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