Bundesfeier 2023 – Gedanken zum Verfassungsjubiläum

Bern, 01.08.2023 - Ansprache von Bundesrat Albert Rösti in Härkingen und Lüterswil-Gächliwil

(Es gilt das gesprochene Wort)

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

liebe Schweizerinnen und Schweizer!

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

liebe Schweizerinnen und Schweizer!

Unser Land feiert heute Geburtstag. Und wie es so ist an Geburtstagen, da darf man sich zuerst einfach einmal freuen.

Aber dann ist ein Geburtstag auch immer eine gute Gelegenheit, um zurückzuschauen. Auf unsere Geschichte. Auf alles, was die Generationen vor uns geleistet haben. Auf den Weg, den wir als Volk und Land gegangen sind.

175 Jahre Bundesverfassung

Dieses Jahr fällt beim Rückblick ein besonderes Jubiläum auf. Wir feiern 175 Jahre Bundesverfassung; also diesen Rechtstext, der die Grundsätze unseres Staates und unseres Zusammenlebens regelt.

Die Verfassung ist unser juristisches und politisches Fundament, auf dem unsere Ordnung steht. Keine Angst, ich werde jetzt keine Vorlesung in Staatsrecht halten.

Aber ich glaube, es lohnt sich, uns wieder mal vor Augen zu führen, was es damit auf sich hat - denn unsere Verfassung ist ein ganz erstaunliches Werk eines ganz erstaunlichen Landes.

Versetzen Sie sich zurück in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. In die Zeit von Jeremias Gotthelf und Gottfried Keller. Vielleicht haben Sie einige ihrer Romane und Novellen gelesen.

Oder Sie erinnern sich an eine der Verfilmungen, zum Beispiel an «Uli der Knecht» mit der grossartigen Liselotte Pulver. Da sieht alles ziemlich friedlich und idyllisch aus: Bukolische Landschaften, behäbige Bauernhöfe, knorrige Menschen, von denen allerdings viele trotz ihrer Verfehlungen das Herz doch irgendwie auf dem rechten Fleck haben.

Die Situation in Europa

Politisch sah die Zeit weniger idyllisch aus - politisch war es eine Zeit grosser Verwerfungen und Umbrüche. Ein halbes Jahrhundert zuvor hatte Napoleon fast ganz Europa erobert, er war bis nach Moskau marschiert. Seither waren viele Länder nicht mehr richtig zu Ruhe gekommen. Sie waren innerlich zerrissen.

Es gab zwei Kräfte: Die einen wollten die alte Ordnung wiederherstellen. Die alte Ordnung bedeutete: Eine Obrigkeit, meist adliger Herkunft, die mit starker Hand regierte und den Untertanen bis ins Detail vorschrieb, wie sie zu leben hatten.

Die andern wollten mehr Freiheit, die Menschen sollten nicht nur Untertanen und Steuerknechte sein, sondern vollwertige Bürger, die das Schicksal selbst in die Hand nehmen können; sie wollten einen bürgerlichen Staat mit Demokratie und Recht und Selbstbestimmung.

Dieser Gegensatz führte immer wieder zu Konflikten. Und im Jahr 1848 entluden sich die Spannungen in europaweiten Aufständen: In Frankreich, in den deutschen Fürstentümern und Königreichen, in italienischen Städten, in Österreich-Ungarn, überall gab es bürgerlich-revolutionäre Erhebungen.

Die Situation in der Schweiz

Aber wie war damals die Situation in der Schweiz? Auch unser Land war in zwei Lager zerrissen. Die Jahre vor 1848 waren gezeichnet von Unruhen:

Die gewaltsame Trennung von Basel Land und Basel Stadt 1832/33 beispielsweise. Oder 1839: Da gab es einen konservativen Putsch in Zürich und einen liberalen Putsch im Tessin. Und 1841 scheiterte im Tessin ein konservativer Gegenputsch. Dann die beiden Freischarenzüge 1844 und 1845, als bewaffnete Liberale in Richtung Luzern zogen. 1846 Barrikadenkämpfe in Genf - und das ist keine abschliessende Aufzählung.

Diese Spannungen steigerten sich über die Jahre sogar noch und führten 1847 zum Sonderbundskrieg.

Wenn wir das also zusammenfassen: Entstanden ist unsere Bundesverfassung vor 175 Jahren inmitten eines Kontinents in Unruhe und Aufruhr. Und auch in unserem Land gingen die Ansichten so weit auseinandergingen, dass man soeben noch zur Waffe gegriffen hatte.

Was jetzt weiter passiert, ist unglaublich spannend: In den anderen Ländern klingen die Proteste ab oder die Aufstände werden von den Regierungen zusammengeschossen. Es herrschen weiterhin Fürsten, Könige und Kaiser.

Nur die Schweiz gibt sich mit der Verfassung von 1848 eine freiheitliche Staatsordnung. Nur die Schweiz geht einen ganz anderen Weg. Ihren eigenen Weg. Unseren Sonderweg.

Die Verfassung von 1848 machte unser Land für viele Jahre zur demokratischen Insel inmitten von Monarchien.

Misstrauisch und ablehnend schauten diese auf die Schweiz, manchmal liebäugelten und drohten sie gar mit einem militärischen Einmarsch. Sie konnten nur schlecht ertragen, dass da ein Land in der Mitte von Europa nach ganz anderen, eigenen Werten lebte.

Einige der wichtigsten Protagonisten

Wie konnte es dazu kommen? Wie konnte ausgerechnet aus diesem Chaos, diesen Turbulenzen, Wirren und Kämpfen eine Verfassung entstehen, die der Schweiz Ruhe und Stabilität brachte?

Und das nicht nur vorübergehend; bis zum heutigen Tag ist unser Land der Inbegriff eines stabilen Landes: Bei ernsthaften Krisen zieht der Schweizer Franken regelmässig an, weil dann Geld aus der ganzen Welt in die sichere Schweiz flieht. 

Und wer sich den Rhythmus von Bundesbern gewohnt ist, der staunt über das rasante Tempo: Nach nur 31 Sitzungen in 51 Tagen wurde ein Werk geschaffen, welches die Schweiz in die stabilste Demokratie in Kontinentaleuropa verwandelte. Offensichtlich hat das mit den wichtigsten Köpfen hinter dieser erstaunlichen Leistung zu tun:

Da ist sicher einmal Johann Ulrich Ochsenbein. Als Präsident der Verfassungskommission war er massgeblich an der Ausarbeitung der Bundesverfassung beteiligt. Man würde ihn aus heutiger Sicht für einen Haudegen und Hitzkopf halten, eher ungeeignet für eine solche delikate Aufgabe. Unter anderem kommandierte er zuvor den zweiten Freischarenzug.

Das zeigt die turbulenten Verhältnisse von damals: Jemand, der soeben noch eine irreguläre Miliz von Freiwilligen durchs Land führte, bekleidete das wichtigste Amt - und das Erstaunliche daran ist: Ochsenbein versieht diese Aufgabe mit grosser Umsicht und Bravour.

Jakob Stämpfli, Jurist und Journalist, war sein grosser Gegenspieler. Er war in der Verfassungskommission der Wortführer der Radikalen, welche die Schweiz zu einem Zentralstaat umformen wollten. 

Hier im Kanton Solothurn muss ich natürlich unbedingt Martin Josef Munzinger erwähnen. Der Zeit entsprechend hatte auch er eine farbige Biographie: 1814 nahm er an einem missglückten Putschversuch gegen das Solothurner Patriziat teil, worauf er einige Monate in der Verbannung in Como leben musste.

Er führte 1830 den Sturz der konservativen Regierung des Kantons Solothurn herbei, arbeitete in der Verfassungskommission mit und wurde 1848 zu einem der ersten Bundesräte des Schweizer Bundesstaats gewählt.

Er liess seine Vergangenheit als radikaler Revoluzzer hinter sich und erwarb sich bald den Ruf eines Vermittlers, der sehr geschickt auf den Ausgleich verschiedener Kräfte und Interessen hinwirkte. Wahrscheinlich haben wir es neben Ochsenbein auch Persönlichkeiten wir Munzinger zu verdanken, dass in der Verfassung in allen wichtigen Fragen eine geschickte und dauerhafte Balance gefunden werden konnte.

Das Resultat - die Verfassung

Schauen wir uns das Resultat an, die Verfassung, die innert so kurzer Zeit entstanden ist. Und die den Boden legte für die Erfolgsgeschichte Schweiz, für unsere freiheitliche Ordnung, unseren Wohlstand und unsere hohe Lebensqualität. 1848 waren viele der wichtigsten Elemente bereits in der Verfassung:

Föderalismus: Die neue Bundesverfassung sicherte den Kantonen eine starke Stellung. Sie sind - daran änderten auch die späteren Verfassungsrevisionen bis heute nichts - soweit zuständig, als die Bundesverfassung nicht ausdrücklich dem Bund eine Kompetenz überträgt. Der Föderalismus entspricht unserem vielfältigen Land und garantiert, dass die Entscheide von jenen Bürgern getroffen werden, die auch mit den Folgen leben müssen.

Zwei Kammern: Wie man das Parlament organisieren wollte, war lange umstritten. Die eine Seite wünschte sich einen Rat proportional zur Bevölkerung. Aber dadurch wären die kleinen Kantone benachteiligt worden.

Die andere Seite wollte mehr oder weniger die herkömmliche Tagsatzung mit ihren Abordnungen der Kantone weiterführen. Damit wären die grossen Kantone benachteiligt worden. Schliesslich ergab sich ein kluger Kompromiss, der bis zum heutigen Tag wirkt: Der Nationalrat repräsentiert das Volk, der Ständerat die Kantone. 

Bundesrat: Die sieben Bundesräte stehen einzelnen Departementen der Bundesverwaltung vor und bilden als Körperschaft gemeinsam Regierung und Staatsoberhaupt. Der Bundespräsident ist nur primus inter pares. So wird verhindert, dass eine Person allein eine zu starke Stellung erhält - ein wichtiger Grundsatz bis heute, der uns auch von all den Ländern mit Präsidialsystem unterscheidet.

Bürgerrechte: Bereits 1848 wurde die Stellung der Bürger durch verschiedene Bestimmungen geschützt: Und unter anderem wurden die Pressefreiheit, die Vereinsfreiheit und das Petitionsrecht verankert. Andere Bestimmungen erleichterten den Handel zwischen den Kantonen und schafften die Zölle im Inland ab.

Fazit - und wie es weiterging

Die Verfassung von 1848 war ein grosser Wurf. Wahrscheinlich gerade deshalb, weil sie nicht als grosser Wurf gedacht war. Sondern als vorübergehender Kompromiss, als erster Schritt, den man zusammen in eine gemeinsame Zukunft gehen wollte. Sie war ein Ausgleich zwischen alt und neu, zwischen Stadt und Land, zwischen liberal und konservativ.

Das Provisorium erwies sich als dauerhafter, als gedacht. Nicht in den Details, aber in den Grundzügen unserer Ordnung. In den nächsten Jahrzehnten gab es noch weitere wichtige Reformen.

1874 kamen bei einer Totalrevision beispielsweise das Referendumsrecht dazu; 1891 wurde das Initiativrecht eingeführt. 1999 wurde die Verfassung neu gegliedert und die Artikel sprachlich angepasst. Und wir Stimmbürgerinnen und Stimmbürger entwickeln die Verfassung jedes Jahr weiter, wenn wir an der Urne über Verfassungsänderungen abstimmen. Aber das Fundament ist jenes von 1848.

Die Lehren daraus

Nun stellt sich natürlich die Frage, was wir für Lehren für die heutige Zeit ziehen können. Meiner Meinung nach sind es insbesondere drei:

Nichts ist selbstverständlich
Die erste Lehre: Wir sind alle in Wohlstand aufgewachsen. Wir haben uns daran gewöhnt, dass es uns gut geht. So daran gewöhnt, dass wir das für selbstverständlich halten. Klar, wir sind tüchtig, fleissig; wir arbeiten mehr als andere. Wir packen an, sind unternehmerisch; unsere Unternehmen überzeugen mit Qualität und Innovation. Aber andere sind auch fleissig, sind auch innovativ. Und trotzdem geht es uns besser. Diesen Vorsprung verdanken wir der freiheitlichen Ordnung, die unsere Verfassung 1848 geschaffen hat. Sie stellt sicher, dass sich Arbeit lohnt, dass die Menschen die Früchte ihrer Arbeit geniessen können. Und dass sie sich frei entfalten können, privat, kulturell, wissenschaftlich, geschäftlich, politisch - das setzt diese wuchtigen Kräfte frei, die unsere Gesellschaft und unsere Wirtschaft so erfolgreich antreiben.

Unser Sonderweg führt zum Erfolg
Die zweite Lehre: Die Schweiz hat nicht gemacht, was die anderen machten. Sondern gerade das Gegenteil. In Zeiten der Monarchien wählte sie die Demokratie. In Zeiten der Knechtschaft die Freiheit. Auch wenn ihr das Kritik eingebracht hat. Diplomatische Schwierigkeiten. Druck und Drohungen - bis hin zum militärischen Säbelrasseln. Es wäre einfacher gewesen, sich anzupassen. Im grossen Strom zu schwimmen. Mit dem Zeitgeist zu gehen. So zu sein wie alle. Dabei zu sein. Dazuzugehören. Unsere Vorfahren haben sich für das Gegenteil entschieden. Sie gingen mit grosser Überzeugung ihren eigenen Weg.

Und machten genau damit die Schweiz einmalig und erfolgreich. Den eigenen Weg zu gehen, das braucht oft Kraft, ist im Moment unangenehm, schwierig; zahlt sich vielleicht erst später aus - da können wir uns auch heute von der Konsequenz und Geradlinigkeit der Generation von 1848 inspirieren lassen.

Ein grossartiges Erbe verpflichtet
Und die dritte Lehre: Wir profitieren von einem Fundament, das wir nicht selbst gelegt haben. Das haben andere für uns geleistet. Wir dürfen auf ihrer Arbeit aufbauen. Das sollte uns dankbar machen, demütig - und auch nachdenklich. Wir haben ein Erbe übernehmen dürfen und stehen immer wieder vor der Wahl, was wir damit tun. Geben wir es auf? Opfern wir es dem Zeitgeist? Oder bewahren wir es und geben es der nächsten Generation weiter?

Meine Meinung kennen Sie: So etwas Wertvolles darf man nicht aufgeben. Wir haben eine Verpflichtung, diese freiheitliche Ordnung unseren Nachkommen weiterzugeben. Und wenn wir uns mal ein wenig Zeit nehmen, darüber nachzudenken, dann ist der 1. August gewiss der richtige Tag dazu!

Ich wünsche Ihnen eine schöne Bundesfeier!

 


Adresse für Rückfragen

Kommunikation UVEK, Tel. +41 58 462 55 11



Herausgeber

Generalsekretariat UVEK
https://www.uvek.admin.ch/uvek/de/home.html

https://www.admin.ch/content/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-97163.html