"Wir haben eine Pflicht zur Erinnerung"

Bern, 15.06.2023 - Gedenkveranstaltung des Vereins Stolpersteine in Bern; Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider - es gilt das gesprochene Wort

Geschätzte Anwesende,

Es ist mir eine grosse Ehre, heute anlässlich dieser Gedenk-veranstaltung einige Worte an Sie richten zu dürfen und ich bedanke mich sehr herzlich für die Einladung. Ich bin heute sehr gerne hier. Denn der Kampf gegen die menschenfeindliche Ideologie des Nationalsozialismus war und ist seit jeher ein wichtiger Teil meiner politischen Überzeugung.

Es ist schön, dass wir heute alle hier sind. Weil es sinnvoll und notwendig ist. Im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus. Gestern, heute und in der Zukunft. Denn die Erinnerung an dieses unermessliche Verbrechen, an das dunkelste Kapitel der Menschheitsgeschichte, muss zeitlos sein und unsere Generationen überdauern.

Die Tatsache, dass immer weniger Zeitzeuginnen und Zeitzeugen von damals noch unter uns weilen, muss für uns Verpflichtung sein, die Erinnerungskultur am Leben zu erhalten. Gemäss einer Studie des US-amerikanischen Nachrichtensenders CNN von 2018 wissen 40% der 18-bis 34-jährigen Europäerinnen und Europäer wenig oder gar nichts über den Holocaust.  Das besorgt mich. Und das soll Ansporn für uns alle sein zu handeln und nicht zu schweigen.

Wir haben also eine Pflicht zur Erinnerung. Das sage ich Ihnen als Politikerin und als Mutter: Im November 2015 besuchte ich als Erziehungsdirektorin des Kantons Jura gemeinsam mit meinem damals 18-jährigen Sohn das Vernichtungslager Ausschwitz-Birkenau. Das war für uns beide ein sehr prägendes Erlebnis. Ich habe bei diesem Besuch eine kurze Rede gehalten und möchte gerne nun einige Sätze daraus zitieren:

"Nous sommes à la frontière des mots et du silence. Il est précieux et difficile de prendre la parole devant et dans ce lieu, alors qu'on aimerait tant la donner à celles et ceux à qui on l'a arrachée avec une violence inouïe et qu'on a plongés dans un abîme de souffrances, de peurs et d'obscénités."

"Alors en parler, chaque fois, le rappeler, le placer en mémoire et devant la conscience, avec amitié et ténacité, quand on est ailleurs, parce que la mémoire est en nous au service de notre devoir."

"A Auschwitz, la mémoire est là. Peu parler à Auschwitz, presque chuchoter, pour ne rien changer, surtout ne rien changer, pour ne pas s'imposer, pour faire place aux voix qui se sont tues, aux cris restés cris, aux silences restés silences, aux visages, aux regards massacrés."

"Alors en parler avec retenue et respect, devant et dans ce lieu, avec compassion,  avec fragilité, avec nos failles comme présences et tenter de faire place à l'espérance à tout petits pas qui frôlent le sol pour ne pas déranger la mémoire, à tous petits regards pour prendre avec soi ces images d'Auschwitz qu'on n'oubliera jamais parce qu'on ne les maîtrisera jamais, à toutes petites écoutes, pour prendre avec soi les silences d'Auschwitz. "

Bei der Pflicht zur Erinnerung ist auch die Rolle der Schule zentral. Deshalb freut es mich sehr, dass die heutigen öffentlichen Steinsetzungen in der Stadt Bern auch von Schulklassen mitgestaltet wurden. Sie hören es: Ich setze meine Hoffnung und mein Vertrauen hier wie bei vielem anderen auch auf die Jugend.

Und ich hoffe auch, dass auch der Bundesrat zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus einen gewissen Beitrag leisten kann.  Wie Sie alle wissen, hat der Bundesrat am 26. April entschieden, gemeinsam mit der Stadt Bern ein Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus errichten zu wollen. Ein Mahnmal mitten in der Stadt Bern, in der Nähe des Bundeshauses. Da ist es sicherlich am richtigen Ort: Im Zentrum der politischen Schweiz.

Der Bundesrat unterstützt zudem auch die Planung und Realisierung eines nationalen grenzüberschreitenden Vermittlungs- und Vernetzungsortes in St. Gallen.

Es gibt vieles, was mich an diesen beiden Projekten freut. Dass die jüdischen Dachorganisationen in der Schweiz diese Projekte begrüssen. Auch, dass diese Projekte mehr sein sollen als ein Denkmal. Nämlich Orte des Austausches, der kulturellen und historischen Bildung und der Wissensvermittlung. Und es freut mich auch, dass diese Projekte auf zwei Vorstösse von SP und SVP-Parlamentariern zurückgehen, die beide sowohl im National- wie im Ständerat einstimmig angenommen wurden.  Denn so viel Einigkeit bestand in dieser Frage nicht immer in der Schweiz: Noch 1998 wurde ein vom Solothurner Künstler Schang Hutter vor dem Bundeshaus aufgestellter grosser Stolperstein mit dem Namen "Shoa" als Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus von Nationalräten einer heute nicht mehr existierenden Partei eigenhändig wieder entfernt und öffentlich als "Schrottklotz" bezeichnet. Es freut mich, dass wir heute in der Schweiz diesbezüglich weiter sind.

Erinnerung heisst auch Auseinandersetzung. Und wenn wir uns mit den Opfern der Shoa auseinandersetzen, so müssen und wollen wir uns auch mit der Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg auseinandersetzen. Ich erinnere mich noch gut an diese Debatte in den 1990er Jahren. Es war eine lebhafte, nicht immer einfache Debatte. Aber vor allem war es eine wichtige und eine notwendige Debatte.

Ce qui me fait penser à Joseph Voyame, Jurassien lui aussi, originaire lui aussi des Franches-Montagnes, ancien directeur de l'Office fédérale de la Justice de "mon" département. Un juriste impressionnant inscrit dans une tradition humaniste profonde. Joseph Voyame a été vice-président de la Commission " Bergier ", que vous connaissez tous, chargée d'étudier le rôle de la Suisse officielle pendant la Seconde Guerre mondiale.

Unsere historische Pflicht zur Erinnerung schliesst für mich auch die Auseinandersetzung mit der Gegenwart und der Zukunft mit ein. Im Wissen und im Respekt der Einzigartigkeit und der Unvergleichbarkeit der Shoa muss uns das Gedenken an die schreckliche Zeit des Zweiten Weltkrieges und der Rolle der Schweiz eine Mahnung sein. Eine Mahnung sein, dass wir in der Gegenwart und in der Zukunft dafür sorgen müssen, dass Opfer von Krieg und Terror in unserem Land Schutz finden.

Die Vergangenheit ist Mahnerin für die Gegenwart. Damit wir auch in Zukunft sicherstellen können, dass die Schrecken der Shoa sich nie wiederholen. Denn "Nie Wieder" ist nicht bloss ein Bekenntnis, es ist auch ein Weckruf für uns alle. Ich bin mir sicher, dass ihre Stolpersteine einen Beitrag dazu leisten werden. Damit wir alle darüber stolpern, uns erinnern und für die Zukunft gemahnt sind.

Ich möchte meinen Beitrag mit einem Zitat des litauisch-französischen jüdischen Autoren und Philosophen Emmanuel Levinas beenden:

"La vraie fraternité, c'est la fraternité par le fait que l'autre me concerne, que  c'est en tant qu' étranger qu'il est mon frère". Ne plus se dérober devant ce prochain qui m'appelle ", et à l'instar des paroles de Levinas, " me fait d'emblée répondre à une assignation, me place, personnellement, devant ma responsabilité irrécusable ".

Ich danke Ihnen herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.


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