«Wir brauchen eine verstärkte internationale Kooperation in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik»

Bern, 12.05.2023 - Ansprache von Bundesrätin Viola Amherd, Chefin des Eidgenössischen Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS), anlässlich der Jahreskonferenz der Regierungskonferenz Militär, Zivilschutz und Feuerwehr (RKMZF) in Islikon, Freitag, 12. Mai 2023.

Es gilt das gesprochene Wort

Sehr geehrter Herr Präsident
Sehr geehrte Damen und Herren
Regierungsrätinnen und Regierungsräte,
sehr geehrte Gäste

Ich freue mich, heute hier zu sein.

Ein Jahr nach unserer letzten Zusammenkunft haben sich die tragischen Umstände in der Ukraine nicht zum Besseren verändert und es ist auch kein Ende des Kriegs in Sicht.

Der Krieg stellt die Welt, Europa und somit auch die Schweiz vor enorme Herausforderungen. Er verändert unser Umfeld nachhaltig.

Ist unsere Zusammenarbeit schon in normalen Zeiten zentral für die Sicherheit der Schweiz, so gilt dies in unsicheren Zeiten noch mehr.

Wir sind ein föderalistisches, in vielen Fragen dezentral geführtes Land. Für eine sichere Schweiz ist eine enge und gute Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen zwingend.

Der Krieg in der Ukraine ist nach der Pandemie ein erneuter Test für diese Zusammenarbeit, auch wenn er andere Fragen tangiert.

Die wichtigen sicherheitspolitischen Fragen, denen sich die Schweiz im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine stellen muss, fordern uns auf, abgestimmte Antworten zu finden.

Dazu gehören der Bevölkerungsschutz, die Energieversorgung, die Unterbringung von Schutzsuchenden, die Verteidigungsfähigkeit und die internationale Zusammenarbeit.

Die gute Zusammenarbeit in all diesen Bereichen ist mir ein grosses Anliegen. Deshalb schätze ich es, hier zu sein und den Kontakt mit Ihnen zu pflegen.

Mein Thema heute ist die sicherheitspolitische Kooperation in einem Umfeld, das vom Krieg in der Ukraine nachhaltig verändert wurde.

Dieses Thema wird im ganzen Land debattiert.

Wir diskutieren derzeit die aussen- und sicherheitspolitische Kooperation und die Rolle der Schweiz in Europa so intensiv wie seit Jahrzehnten nicht mehr.

Wir haben im Sicherheitspolitischen Bericht 2021 auf das zunehmend konfrontative Verhalten Russlands hingewiesen, ebenso auf das Risiko einer Eskalation an der Ostgrenze.

Leider ist eine solche eingetreten, indem Russland die Ukraine mit Waffengewalt angegriffen hat, in Verletzung aller internationaler Normen.

Und dies in drastischerer und brutalerer Form, als wir erwartet haben.

Russlands Angriff wird die sicherheitspolitische Lage in Europa und darüber hinaus noch jahrelang prägen.

Im Zusatzbericht zum Sicherheitspolitischen Bericht vom September 2022 haben wir die ersten Folgen des Krieges analysiert.
 
Erstens zeigt der Krieg in der Ukraine die Notwendigkeit, den Fokus stärker auf einen wirksamen Bevölkerungsschutz, einen leistungsfähigen Nachrichtendienst und auf die Verteidigung zu setzen, und zwar auf eine adäquat ausgerüstete Armee.

Zweitens erfordern der Krieg und die unsichere Zukunft, die Stärkung der internationalen Zusammenarbeit.

Dank unserer geografischen Lage profitieren wir von unserem stabilen Umfeld und indirekt vom Schutz der Nato – ohne unser Zutun.

Das bedeutet, dass die Nato, darunter unsere drei grossen Nachbarstaaten, unsere naheliegende Partnerin ist.

Auch die EU gehört zu unseren Partnern in der internationalen Sicherheitskooperation.

Für die Schweiz als neutraler Staat gilt weiterhin, dass wir im Hinblick auf den Fall eines Angriffs auf die Schweiz die Optionen bewahren, uns autonom zu verteidigen oder bei Bedarf unsere Verteidigung mit anderen Staaten zu organisieren.

Die Grenzen der Neutralität für die Kooperation sind dabei klar.

Die Schweiz geht keine Verpflichtungen zur militärischen Unterstützung im Kriegsfall ein. Wir müssen auch entsprechende Sachzwänge vermeiden.

Das lässt aber viel Spielraum für die Zusammenarbeit. Und gemäss einer ETH-Studie befürwortet auch eine Mehrheit der Bevölkerung eine stärkere Zusammenarbeit mit der Nato.

Eine funktionierende Zusammenarbeit mit der Nato und unseren grossen Nachbarstaaten setzt im Ernstfall voraus, mit ihnen militärisch interoperabel zu sein.

Das muss in Friedenszeiten vorbereitet und geübt werden.

Das ist Bestandteil unserer sicherheits- und verteidigungspolitischen Strategie.

Die Armee ist seit über 25 Jahren Teil der Partnerschaft für den Frieden, beteiligt sich an gemeinsamen Übungen und an Friedensförderungseinsätzen, vor allem in Kosovo bei der KFOR.

Damit tragen wir zur Stabilisierung der Lage vor Ort und damit auf dem europäischen Kontinent bei. Zudem bringen solche Einsätze der Schweizer Armee wichtige Einsatzerfahrung in engster Zusammenarbeit mit unseren Partnern.

Unsere Absicht ist es, Kooperationsmöglichkeiten viel stärker als bislang zu nutzen.

Konkret wollen wir die Fähigkeit zur Zusammenarbeit in verteidigungsrelevante Bereiche ausweiten.

Die Nato wie die EU haben uns gesagt, sie seien offen und begrüssen unsere Absicht.

Man liess uns wissen – wie der Generalsekretär der Nato mir bei meinem Besuch in Brüssel im März gesagt hatte – dass man keine Forderungen an die Schweiz hat und wir unsere Ideen einbringen sollen.

Auf der Grundlage des Zusatzberichts haben wir ebenfalls analysiert, welche Pisten am meisten Potenzial zeigen.

Bei der Nato sehen wir Möglichkeiten in den verschiedensten Bereichen:

  • Mit der Nato bereiten wir den Abschluss eines individualisierten Partnerschaftsprogramms (ITPP) noch in diesem Jahr vor, um die Interoperabilität zu stärken und auf verteidigungsrelevante Bereiche auszuweiten.
  • Zudem streben wir eine stärkere personelle Beteiligung an den Centres of Excellence der Nato an. Diese befassen sich mit spezifischen Herausforderungen, beispielsweise Cybersicherheit, Genietruppen oder Militärmedizin;
  • Weiter wollen wir an mehr Übungen teilnehmen als Beobachter und später als Teilnehmer, einschliesslich Übungen zur Verteidigung.
  • Wir planen zudem die Entsendung von mehr Stabsoffizieren in die Strukturen der Nato, um die Zusammenarbeit in den internationalen Stäben zu trainieren.

Auch bei der EU wollen wir die sicherheits- und verteidigungspolitische Kooperation intensivieren.

Denn im Zuge des Kriegs in der Ukraine hat die EU klar ihre Ambitionen erhöht und ihre Bemühungen zur Zusammenarbeit verstärkt.

Die Schweiz will mit der EU regelmässigeren Austausch zu sicherheitspolitischen Themen suchen, sich an Projekten der Zusammenarbeit «Pesco» und weiterhin an Vorhaben der Europäischen Verteidigungsagentur beteiligen, und strebt einen Beitritt als Drittstaat zum EU-Katastrophenschutzmechanismus an.

Bei diesen Beispielen sehen Sie, dass die entsprechenden Themen weit über das Militärische hinausgehen.

Die Nato wie die EU sind in Bereichen wie Cybersicherheit, Krisenmanagement oder Resilienz – vom Schutz kritischer Infrastrukturen über Lieferketten bis hin zum Katastrophenschutz – aktiv.

Das sind Themen, die auch für die Kantone besonders relevant sind.

Bei diesen Kooperationsbemühungen ist Folgendes zu beachten: Der Nutzen, der Lerneffekt und die Eigenleistung müssen in einer Partnerschaft gegenseitig sein.

Wie bereits gesagt, die Neutralität setzt uns bestimmte Grenzen.

Bei meinen Kontakten mit Amtskolleginnen und -kollegen höre ich stets, dass sie offen sind für die Zusammenarbeit mit der Schweiz. Gleichzeitig werden Aspekte der Schweizer Politik im Kontext des Ukrainekriegs vielerorts nicht verstanden.

Dass die Schweiz aufgrund des Neutralitätsrechts der Ukraine keine Waffen direkt liefert, ist klar und unbestritten.

Was hingegen auf kein Verständnis stösst, ist, dass die Schweiz die Wiederausfuhr von Kriegsmaterial nicht bewilligt.

Das Parlament diskutiert mögliche Anpassungen. Sie kennen die Debatten. Die Diskussionen sind intensiv.

Als Folge der Gesetzgebung zur Wiederausfuhr könnte die Produktion von Kriegsmaterial zunehmend ins Ausland wandern, weil die Schweiz nicht mehr als zuverlässige Lieferantin angeschaut wird.

Die Position der Schweiz bei den Wiederausfuhren gefährdet die Konkurrenzfähigkeit der sicherheitsrelevanten Technologie- und Industriebasis, kurz STIB.

Eine Abwanderung von Schlüsseltechnologie und Produktionsstätten ins Ausland könnte die Folge sein.

Diese Abwanderung hat auch Auswirkungen auf Unternehmen über die Rüstungsindustrie hinaus.

Der Erhalt von Schlüsseltechnologien in der Schweiz ist ein zentrales Element, um die Rüstungskooperation mit Partnerstaaten langfristig sicherzustellen.

Wir brauchen eine verstärkte internationale Kooperation in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, um unsere Sicherheit zu stärken.

Das setzt voraus, dass die Schweiz als verlässliche Partnerin wahrgenommen wird, und dass sie selber Beiträge zur Sicherheit ihrer Partner leisten kann.

Cela a également une influence directe sur la question de savoir comment l'armée suisse doit évoluer.

Depuis la fin de la guerre froide, l'armée a été orientée vers des engagements de soutien aux autorités civiles pour des missions subsidiaires de sûreté et d'aide en cas de catastrophe.

Pour l'improbable cas de défense, on s'est basé sur des délais de préalerte plus longs - ce qui était juste dans l'optique de l'époque.

Le budget et les effectifs ont été réduits, la défense a été ramenée au maintien des compétences clés.

Depuis l'annexion de la Crimée par la Russie en 2014, l'armée s'est à nouveau davantage orientée vers la défense.

Les rapports "Avenir de la défense aérienne", "Avenir des forces terrestres" et le Rapport Cyber montrent que certaines capacités doivent être renouvelées pour protéger efficacement la Suisse et sa population contre les menaces qui se profilent.

En ce qui concerne les forces terrestres, l'image hybride du conflit est au centre des préoccupations.

La menace et l'utilisation de la force militaire en font partie, au même titre que la désinformation, les cyberattaques et d'autres formes d'utilisation dissimulée de la force. Tous ces éléments sont utilisés en Ukraine.

La guerre en Ukraine a confirmé que les cyberattaques ne remplacent pas les moyens traditionnels, mais les complètent et renforcent leur impact.

Die Fähigkeitsentwicklung der Armee sah schon vor dem Kriegsausbruch eine Erneuerung der robusten Mittel vor.

Zwei wesentliche Aspekte haben sich seither geändert: die Wahrnehmung der Bedrohung und die beschlossene Erhöhung des Verteidigungsbudgets.

Das macht es nötig und möglich, Fähigkeitslücken schneller als bislang geplant zu schliessen.

Für das Jahr 2023 haben Bundesrat und Parlament das Budget der Armee um rund 300 Millionen Franken auf 5,5 Milliarden Franken erhöht. Ab 2035 wollen wir 1% des BIP für die Verteidigung ausgeben.

Dadurch können wir Projekte vorziehen und Systeme für die Armee früher beschaffen.

Aber nicht nur auf die Armee und die Verteidigung hat der Krieg in der Ukraine einen Einfluss.

Auch die Wichtigkeit des Bevölkerungsschutzes und bekannter Themen – wie die Sicherheitskommunikation und die Alarmierungs- und Ereignisinformationssysteme – wurde verdeutlicht.

Die Realität in der Ukraine hat auch Themen, die in den letzten Jahren etwas in den Hintergrund geraten waren, wieder auf die Tagesordnung gesetzt, beispielsweise die Bedeutung unserer Schutzbauten.

Entsprechend gilt es zu klären, welche Massnahmen zum Werterhalt und zur Weiterentwicklung der Schutzbauten-Infrastruktur in den nächsten Jahren in der Schweiz zu treffen sind und wie die Finanzierung sichergestellt werden soll.

Auch hier werden sowohl Bund als auch Kantone gefordert sein.

Das Konzept Schutzbauten zeigt aus technischer Sicht auf, welche Massnahmen notwendig wären.

Diese gilt es nun rechtlich und politisch zu analysieren, damit entsprechende Entscheidungen vorbereitet werden können.

Mit der aktuellen Stossrichtung unserer Sicherheitspolitik – Stärkung der internationalen Zusammenarbeit, Stärkung der eigenen Verteidigungsfähigkeit und Festigung des Bevölkerungsschutzes, wie ich erläutert habe – verfolgen wir ein einziges Ziel:

Die Wahrung der Sicherheit der Schweizer Bevölkerung, und dies nachhaltig.

Diesem Ziel dient auch die Schaffung eines Staatssekretariats im VBS, das der Bundesrat vor knapp einem Monat beschlossen hat.

Der zivile Sicherheitsbereich im VBS und die sicherheitspolitische Koordination innerhalb des Departements und darüber hinaus werden dadurch gestärkt.

Wie ich dargelegt habe, werden in heutigen Konflikten neben militärischen Mitteln zunehmend andere Mittel eingesetzt.

Diese hybride Konfliktführung bedeutet für die Schweiz Bedrohungen, die nicht auf die Verteidigungspolitik beschränkt sind.

Mit einem Staatssekretariat will der Bundesrat sicherstellen, dass er flexibel auf wichtige sicherheitspolitische Entwicklungen reagieren kann und die Sicherheitspolitik in all ihren Facetten aus gesamtheitlicher Perspektive weiterentwickelt.

Wie Sie wissen, wird das Nationale Zentrum für Cybersicherheit (NCSC), das in den vergangenen Jahren im Finanzdepartement angesiedelt war, als Bundesamt ins VBS überführt werden.

Auf diesem Weg tragen wir der zunehmenden Bedeutung der Cybersicherheit Rechnung.

Die Stärkung der Cybersicherheit ist zu einer unverzichtbaren Aufgabe des Bundes geworden.

Das neue Bundesamt wird eine zivile Einheit der Bundesverwaltung bleiben und wie das NCSC eng mit weiteren Bundesstellen, den Kantonen und der Wirtschaft zusammenarbeiten.

Sehr geehrte Damen und Herren
Regierungsrätinnen und Regierungsräte,
sehr geehrte Gäste:

Ich komme zum Schluss.

Sie haben gesehen, dass die Bemühungen zur internationalen sicherheitspolitischen Kooperation und zur Stärkung der Verteidigungsfähigkeit zentral und komplementär sind.

Die Kantone sind vielerorts auch betroffen, denn Sicherheit ist eine Verbundsaufgabe und Sicherheit wird schon länger breiter definiert als militärische Verteidigung.

Fragen zu diesen Themen werden so intensiv und fundamental diskutiert wie lange nicht mehr.

Folgende Fragen stehen für mich im Zentrum:

•    Wie wollen wir die Zusammenarbeit mit unseren zentralen Partnern gestalten?

•    Wie wollen wir unsere eigene Verteidigungsfähigkeit weiterentwickeln?

•    Wo nehmen wir Abhängigkeiten in Kauf, wo wollen wir autonom bleiben?

•    Wie gestalten wir unsere Neutralitätspolitik, damit sie weiterhin der Sicherheit der Schweiz dient?

•    Wie wollen wir unsere Verantwortung für Sicherheit und Stabilität in Europa wahrnehmen? Wie gestalten wir unsere Rolle?

Die Antworten auf diese Fragen beschäftigen uns im VBS ständig. Schliesslich werden sie unser Land für Jahre und Jahrzehnte in vieler Hinsicht prägen.

Ich freue mich, wenn Sie sich an der Debatte beteiligen.

Merci de votre attention.


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