Energieversorgung: «Ein Ersatz fossiler Energieträger ist dringend nötig»

Dübendorf, St. Gallen und Thun, 28.04.2023 - Interview mit Peter Richner, Stellvertretender Direktor Empa, zu unserer Energiezukunft – und der Schwierigkeit von "Prognosen".

Energieknappheit war eines der dominierenden Themen in den letzten Monaten – und dürfte uns auch weiterhin beschäftigen, siehe etwa die Weiterführung etlicher Sparmassnahmen über die Heizperiode hinaus. Wie ist denn die Empa über den Winter gekommen?

Dank einer Kombination aus warmem Wetter und selektiven Sparmassnahmen konnten wir den Energiebedarf zwischen Oktober 2022 und März 2023 im Vergleich zur Vorjahresperiode um insgesamt 14% reduzieren. Und für uns besonders wichtig: Diese Einsparung haben wir erzielt, ohne dass wir betriebliche Einschränkungen in Kauf nehmen mussten.

Wodurch genau haben Sie das erreicht, welche Massnahmen haben Sie ergriffen?

Wir haben die Raumtemperaturen und die Beleuchtung reduziert, auf Brauchwarmwasser verzichtet und konsequent Stand-By-Verluste eliminiert.

Und werden Sie diese Massnahmen weiterführen? Oder gar noch weitere Schritte Richtung nachhaltige Energieversorgung machen?

Die Mehrheit der Massnahmen werden wir sicher verstetigen. Zudem investieren wir weiter in eine optimierte Steuerung der Raumtemperaturen, und wir werden noch in diesem Jahr auf unserem Campus in Dübendorf einen neuartigen saisonalen Wärmespeicher in Betrieb nehmen, was uns nochmals eine signifikante Einsparung bei der Heizenergie ermöglichen wird.

Die Energiewende hin zu einer nachhaltigen Energieversorgung ist ja derzeit – u.a. auch wegen der anstehende Abstimmung zum Klima- und Innovationsgesetz – in aller Munde. Dabei scheint jede/r Involvierte andere Zahlen herumzureichen, die den einen oder anderen Standpunkt zu belegen scheinen. Warum herrscht da eine derart grosse "Kakophonie" der Zahlen – können da einige schlicht nicht rechnen?

In der Tat erscheinen die zahlreichen Studien, die von der Empa und vielen anderen in den letzten Monaten und Jahren publiziert worden sind, auf den ersten Blick widersprüchlich. Es gilt aber zu beachten, dass es dabei immer nur darum geht, die Ergebnisse oder Konsequenzen bestimmter Entscheidungen und Handlungen zu untersuchen, im Sinne eines "WENN-DANN". Es handelt sich dabei also um mögliche Szenarien – und nicht um Prognosen, die für sich in Anspruch nehmen würden, die Verhältnisse im Jahr 2040 oder 2050 exakt zu beschreiben.

Die einer Studie zugrundeliegenden Annahmen sind daher ganz entscheidend für die Resultate. Logischerweise sehen diese anders aus, wenn in einer Studie etwa von einer vollen Ausschöpfung des Potentials an erneuerbarer Energie in der Schweiz – also Sonne, Wind, Wasser und Geothermie – ausgegangen wird und in einer anderen Studie dieses Potential nur teilweise aktiviert wird.

Ein gutes Beispiel dafür ist die Arbeit von Andreas Züttel und seinen Kollegen, in der sie untersuchten, was es bedeuten würde, wenn die Schweiz ihren Energiebedarf jederzeit zu 100% durch inländische Produktion decken wollte – mit anderen Worten energetisch komplett autark wäre. Dies ist ein Zustand, den es so mindestens seit der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzenden Industrialisierung nicht mehr gegeben hat. Die Analyse zeigt auf, dass vollständige energetische Autarkie nur zu exorbitant hohen Kosten in Kombination mit massivsten Eingriffen in unsere Umwelt erreichbar wäre. Insofern bestätigt die Studie die Richtigkeit der aktuellen Strategie der Schweiz, die auf einen Mix aus Energieeffizienz, Ausbau der erneuerbaren Energien in der Schweiz, eine Integration ins Europäische Stromnetz und den globalen Handel mit erneuerbarer Energie anstrebt.

Das heisst, die unterschiedlichen Kosten hängen also einfach davon ab, was man alles in die "Gesamtrechnung" für die Energiewende mit aufnimmt?

Nebst der technischen Machbarkeit spielen natürlich in allen Studien zur Transformation des Energiesystems die Kosten eine wesentliche Rolle. Auch hier muss man bei jeder Arbeit genau hinschauen, da es keine allseitig akzeptierte Definition für das "Energiesystem" gibt. Zudem ist zu unterscheiden, was effektive Mehrkosten sind und welche Kosten in Form von Unterhalt und Ersatzinvestitionen auf jeden Fall zu tragen sind – sprich: auch ohne Umbau unseres Energiesystems. So werden beispielsweise in der aktuell viel zitierten Studie von "Swiss Banking" Gesamtkosten von CHF 387 Mrd. genannt, wovon allerdings 58%, also CHF 225 Mrd., Ersatzinvestitionen sind . Alleine 35% der Gesamtkosten fallen für die erstmalige Anschaffung von Elektrofahrzeugen durch Private an. Das sind aber grösstenteils keine Mehrkosten, da im Zeitraum bis 2050 sowieso die ganze Fahrzeugflotte mindestens einmal erneuert würde und sich die Kosten von Elektrofahrzeugen und Verbrennern laufend annähern.

Bei allen Unterschieden in den verschiedenen Studien und Modellen – wo herrscht denn Einigkeit, was gilt derzeit als gesichert?

Einig sind sich alle darin, dass ein vollständiger Ersatz der fossilen Energieträger notwendig ist. Und dies muss möglichst rasch geschehen, um die Schäden durch die Klimaerwärmung in einem tragbaren Rahmen halten zu können. Des Weiteren ist die Versorgungssicherheit mit der aktuell grossen Abhängigkeit von Importen aus teilweise kritischen Regionen ungenügend.

Mit der Umstellung auf erneuerbare Energien ist eine starke Elektrifizierung bei den Gebäudeheizsystemen und in der Mobilität verbunden, die gleichzeitig zu einem grossen Energieeffizienzgewinn führt: Sowohl eine Wärmepumpe als auch ein Elektromotor sind rund dreimal effizienter als ein Heizkessel oder ein Verbrennungsmotor. Dies führt zu einer Reduktion des Primärenergiebedarfs, gleichzeitig aber zu einer grösseren Nachfrage nach Strom.

Diese zu decken, vor allem im Winter, ist die wohl grösste Herausforderung, die es zu meistern gilt. Dafür gibt es nicht DIE richtige Lösung, sondern es gibt eine Vielzahl von Varianten. Analysiert man die verschiedenen Transformationspfade, so fällt dabei auf, dass sich diese bezüglich der in den nächsten paar Jahren zu treffenden Massnahmen kaum unterscheiden: Wir müssen die in allen Bereichen (Gebäude, Mobilität, Industrieprozesse) Energieeffizienz erheblich verbessern und die Kapazitäten für erneuerbare Energien im Inland massiv ausbauen. Erst in der zweiten Phase ab 2030/2035 kommt es zu einer Differenzierung zwischen den verschiedenen Szenarien, die sich primär beim Selbstversorgungsgrad und dem Mix an eingesetzten Technologien unterscheiden.

Angesichts der Dringlichkeit und der Grösse der Herausforderung wäre es daher angezeigt, mehr Gewicht auf die konsequente Umsetzung der ersten Schritte zu legen, die wir in den nächsten zwei bis fünf Jahren machen müssen. Wir haben die letzten 15 Jahre schlecht genutzt und stattdessen den Fokus der Diskussionen auf eine möglichst exakte Beschreibung des Zustandes im Jahr 2050 gelegt. Das ist zwar durchaus wichtig, darf uns aber nicht davon abhalten, das zu tun, was JETZT nötig ist – und worüber auch weitgehend Einigkeit herrscht.

Wie meinen Sie das – "die letzten 15 Jahre schlecht genutzt"? Was haben wir denn in der Schweiz in dieser Zeit verpasst?

Ein gutes Beispiel ist der Zubau von Photovoltaikanlagen. Die Preise für PV-Module fallen seit vielen Jahren exponentiell, zwischen 2010 und 2020 ca. um einen Faktor 10! Parallel dazu nimmt die Menge an installierter PV-Leistung global in ähnlichem Massstab zu. Betrachtet man die Situation dagegen in der Schweiz, fällt auf, dass der Zubau ab 2013 stagnierte bzw. sogar zurückging und erst ab 2019 wieder zu wachsen begann. Hätte sich der Schweizer PV-Markt stattdessen parallel zum Weltmarkt entwickelt, wäre die installierte Leistung in der Schweiz heute bereits um ein Vielfaches höher. Damit wäre die inländische Stromproduktion entsprechend höher, und das verarbeitende Gewerbe hätte sich in diesem Zeitraum ebenfalls entsprechend entwickelt und würde heute über deutlich grössere Installationskapazitäten verfügen. Damit wären wir bezüglich Stromversorgungssicherheit heute in einer viel besseren Ausgangslage.

Wie ist es denn zu dieser Stagnation im PV-Bereich gekommen?


Eigentlich hätte man nach Fukushima und der Abwendung der Schweiz von der Nukleartechnologie erwartet, dass dem Zubau alternativer Technologien im Inland hohe Priorität geschenkt worden wäre. Dem war offensichtlich nicht so. Zu lange hat man auf eine Importstrategie auf der Stromseite gesetzt, obwohl schnell klar war, dass unsere Nachbarländer insbesondere im Winter vor ähnlichen Herausforderungen stehen, und dass sich der Abschluss eines Stromabkommens mit der EU als sehr schwierig erweist.

Noch eine Frage zur Versorgungssicherheit – die steht ja, nicht erst seit dem Krieg in der Ukraine, hoch im Kurs. Müssen wir, um diese zu erreichen, sämtliche Energie in der Schweiz "produzieren", also autark werden?

Nochmals, eine vollständige Autarkie macht weder ökonomisch noch ökologisch Sinn, der Preis ist schlicht zu hoch. Sie ist auch nicht Teil der Energiestrategie der Schweiz. Die Schweiz ist seit der Industrialisierung energetisch nicht mehr autark; das gleiche gilt für viele andere Aspekte wie Nahrung, Medikamente etc. Viel wichtiger ist, ein resilientes Versorgungssystem aufzubauen, das auf einer starken inländischen Produktion mit Wasser, Sonne und ev. Wind und Geothermie mit entsprechenden Speichermöglichkeiten aufbaut. Ergänzt wird dieses durch den Import erneuerbarer Energie, allenfalls in Form von synthetischen Energieträgern wie Wasserstoff und Methan, die durchaus in weit von der Schweiz entfernten Gegenden produziert werden können. Denn dort gibt es erneuerbare Energie im Überfluss. Dabei sind allerdings zwei Aspekte wichtig: Die Bezugsquellen müssen diversifiziert werden, um nicht in eine kritische Abhängigkeit von einzelnen Ländern oder Weltregionen zu geraten. Und es braucht eine gute Integration der Schweiz in das europäische Energienetz. Dieses wird in Zukunft nicht nur Strom, sondern vermutlich auch Wasserstoff und synthetisches Methan umfassen. Haben wir keinen oder nur beschränkten Zugang, ist unsere Versorgungssicherheit in Frage gestellt.


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