Von Sorgfalt und Klarheit

Zürich, 29.04.2023 - Rede am Dies Academicus der Universität Zürich Bundeskanzler Walter Thurnherr Zürich, 29. April 2023

“The more facts you collect,
the closer you come to the truth”
Robert Caro


«’Obvious’ is the most dangerous word in mathematics»
Eric Temple Bell

Sehr geehrter Herr Rektor
Sehr geehrte Mitglieder des Zürcher Regierungs-, des National-, des Stände- und des Kantonsrats,
Sehr geehrte Forscherinnen und Forscher
Sehr geehrte Uniabsolventinnen und -absolventen, heute Geehrte und Gäste

Ich möchte Ihnen von zwei persönlichen, eher schwierigeren Erfahrungen berichten. Die erste betrifft die Mensa dieser Universität, die mir als Student grundsätzlich viel angenehmer war, als jene unterkühlte Einrichtung mit demselben Zweck an der ETH nebenan, wo ich eigentlich hingehörte, und zwar insbesondere weil Letztere (die ETH Mensa) den Charme eines sterilen Oberdecks im grössten Raumschiff der Sternenflotte ausstrahlte, in der es auch niemanden wirklich erstaunt hätte, wenn sich tatsächlich ein Vulkanier, Borothaner, Caldonier oder ein aufbrausender Klingone an den Nebentisch gesetzt hätte. An jenem Tag war ich also in der Uni- und nicht in der ETH-Mensa, und ich weiss noch genau, an welcher Differentialgleichung ich herumgrübelte, während ich – nach verspeistem Riz Casimir – mein Tablett mit dem Geschirr wieder nach vorne brachte. Das Tablett mit dem Geschirr hätte ich auf das Band legen und den Papierbecher und den restlichen Abfall hätte ich in den grossen Kehrichtsack werfen sollen, der danebenstand: eine eigentlich zu bewältigende Aufgabe für einen Studenten der theoretischen Physik im sechsten Semester. Aber eben, da war diese Differentialgleichung, und erst als mein Geschirr mit einem ohrenbetäubenden Lärm am Boden des aufgestellten 1.5m hohen Kehrichtsacks zerschellte und ich den Papierabfall auf das Band in die Küche legen wollte, realisierte ich – und mit mir auch der Rest der gesamten, aufgeschreckten Studentenschaft in der Uni-Mensa, dass ich die Reihenfolge der Materialtrennung verhängnisvoll verwechselt hatte. Nie werde ich die auf mich gerichteten Blicke der Unistudentinnen und -studenten vergessen, die alle dasselbe auszudrücken schienen: «Dieser Idiot ist ganz bestimmt von der ETH drüben»; nie mehr seit diesem peinlichsten Tag meiner akademischen Ausbildung habe ich mich in Ihre Mensa getraut, und aus Angst, dass mich jemand an der Uni Zürich wiedererkennen würde, habe ich für den Rest meiner Studentenzeit die Mahlzeiten mit den Vulkaniern und Klingonen an der ETH zu mir genommen. Immerhin: Ihre Einladung, hier und heute zu Ihnen zu sprechen, habe ich als positives Zeichen gewertet, dass der damalige Zwischenfall die Beziehung zwischen den beiden Hochschulen nicht nachhaltig belastet hat.

Die zweite Erfahrung war auch schwierig, aber hilfreich und vielleicht bedenkenswert, weshalb ich etwas aushole. Sie wissen: Mit dem Studium lernt man nicht nur Namen, Gesetze und Zusammenhänge, sondern auch eine Methodik, die sich durch eine dauernde, sorgfältige, selbstkritische Beschränkung und Prüfung eigener Aussagen auszeichnet. «Never speak more clearly than you think», lehrte Niels Bohr seine Studenten, heisst: Vorsicht vor voreiligen Schlüssen und geschwind präsentierten Gewissheiten! Im besten Fall ist das, was wir Erkenntnis nennen, ein Missverständnis auf höherem Niveau (Wolfgang Pauli). Insbesondere in meinem Studienfach war dieser Vorsatz der Zurückhaltung und der genauen Differenzierung nicht nur ein theoretisches Vermächtnis der Aufklärung, sondern er speiste sich fortwährend neu aus der täglichen Erfahrung. Das scheinbar Offensichtliche war bei genauer Betrachtung nicht vollständig oder sogar völlig falsch. Poincaré – nicht der französische Präsident, sondern sein mathematisierender Cousin (1) – entdeckte, dass gewisse dynamische Systeme bei winzigsten Abweichungen der Ausgangsbedingungen gewaltige Ausschläge produzieren und damit unberechenbar (im wörtlichen Sinn) werden. Niemand hätte das gedacht. Einstein liess als Bundesbeamter seinen Blick nachdenklich aus dem Bürofenster über die Dächer von Bern schweifen, postulierte das (lokale) Äquivalenzprinzip, brütete, rechnete und stellte zehn Jahre später die Gravitation auf völlig neue Fundamente (viele in der Verwaltung haben seither mit demselben Trick versucht, seine Theorie weiterzuentwickeln, aber die Dächer von Bern sind auch nicht mehr wie früher). Heisenberg erkannte als erster, was es bedeutet, ein Elementarteilchen zu «beobachten» und leitete daraus die Unschärferelation ab. Mathematisch keine grosse Sache, physikalisch sehr verblüffend und deshalb nicht ganz zufällig «uncertainty principle» genannt. Und so weiter. Gerade die nicht deterministische Quantenmechanik, wo Messungen nur noch als Verhältnisse gedeutet werden und Dinge passieren, die vorher unmöglich schienen – zumindest für sehr kurze Zeit (eben wegen der Unschärferelation) -, lehrten uns, sogenannten Gewissheiten grundsätzlich zu misstrauen. «Doubt, doubt, and don’t believe without experiment», wie man im alten England sagte - und zu Recht beginnen heute die Lehrbücher mit Hinweisen der Art: «Aristotle said a bunch of stuff that was wrong. Galileo and Newton fixed things up. Then Einstein broke everything again. Now, we’ve basically got it all worked out, except for small stuff, big stuff, hot stuff, cold stuff, fast stuff, heavy stuff, dark stuff, turbulence, and the concept of time” (2) .

Wer in diesem Sinn vorbereitet, geschult und geimpft in die Welt der Politik hinüberwechselt (wie es bei mir der Fall war), wird deshalb verdutzt feststellen, wie viele Leute in diesen Kreisen überhaupt kein gespanntes Verhältnis zu definitiven Wahrheiten und apodiktischen Urteilen pflegen – und zwar nicht nur bei vermeintlich dumpfen Wortgefechten kommunaler Parlamente, sondern auch auf allen weiteren Stufen des föderalen Überbaus. In Bern hält die Überraschung der Neudazugestossenen gewöhnlich nicht für lange an, denn es wird bereits nach wenigen Tagen offenkundig, dass man im Bundeshaus fast alles weiss. Auf praktisch jede Frage kennt man sofort die Antwort, von der richtigen Strategie gegen die Covid-Seuche über die angemessene Eigenkapitalquote systemrelevanter Banken bis zu den Verfehlungen der FINMA.

Und Bern ist da kein Einzelfall. In allen Hauptstädten ist das so, in den Zentralen der Wirtschaft übrigens auch, und in den Medien sowieso. Die meisten hier in der akademischen Welt haben es schon selber erlebt: Ausserhalb der universitären Mauern (zuweilen sogar innerhalb), wird nicht selten mit dem Zweihänder Klarheit geschaffen, schliesslich ist es auch nicht besonders schwierig: Hier sind die Klugen, dort die Trottel. Hier die Linken, dort die Bösen. Hier muss man klar dafür sein, dort dezidiert dagegen. Hier stellt man das Geschirr ab, und dort wirft man den Abfall hinein. Ganz einfach!

Natürlich, es gab sie schon immer, die unbelehrbaren Vereinfacher, die Pauschalisierer, die Blender und die Klugschwätzer, die keinen Zweifel, aber viele Stereotypen kennen; solche, die Gorbatschov uneingeschränkt verherrlichten und wenige Jahre zuvor noch jedem Russen an die Gurgel gesprungen wären; für die Reagan ein Held war und Obama ein Versager ist, oder umgekehrt; die nicht einsehen, weshalb wir nicht sofort und jubelnd der EU beitreten, oder im Gegenteil, warum wir nicht endlich den Gotthard sperren, um den Verbockten in Brüssel beizukommen; jene, die nur noch verdriesslich alle Verderbnisse aufzählen, die seit der Einführung des Frauenstimmrechts oder der Abschaffung der Kavallerie über die Schweiz hereingebrochen sind, und die am liebsten die Landesgrenzen durch Schutzwälle ersetzen oder sie im Gegenteil ganz aufheben würden. Schon lange gibt es diese radikalisierten Realitätsverkürzer, die Uneinsichtigkeit mit Charakterfestigkeit verwechseln, die nie fragen, stets penetrant widersprechen und immer felsenfest überzeugt sind. Aber seit bzw. mit den sozialen Medien können wir uns ihnen nicht mehr entziehen. Sie schreien überall dazwischen, und sie sind gefährlich.

Soweit so gut, bzw. so weit so klar und ernst und wichtig - aber eben trotzdem nicht ganz wahr. Denn es greift zu kurz, wie ich dann feststellte, mit akademischen Zeugnissen in den Händen über das Machwerk der Populisten oder die Beschränktheit der Kurzkommentare zu lamentieren, entsprechend dem empirisch gut belegten Grundsatz: «Wer in der Schweiz etwas weiss, bedauert sofort das Halbwissen der anderen». Und erst recht wäre es verfehlt zu glauben, alles würde besser, wenn nur die Politiker so wären wie die Professoren (ich weiss, dass an dieser Universität seit Jahren intensiv an der Superposition «Professor und Politiker» geforscht und getüftelt wird. Aber gemäss meinen Informationen sind die Testergebnisse zwar vielversprechend, aber noch nicht sonderlich stabil).

Nein, es gibt eben Situationen und Umstände, in denen Sie Entscheide brauchen, ohne alles zu wissen, was man zwanzig Jahre später vielleicht für offensichtlich hält. Ermessen, schätzen und beschliessen, wo es keine Tabelle gibt, die klärt, wer Recht hat, und wer daneben liegt.

Und vor allem: Es gibt Situationen im Leben, da kann und muss man Ausrufezeichen setzen, statt sich mit feingliedrigen Relativsätzen zu behelfen. Fragen, auf die man nicht mit «einerseits und andererseits» antworten sollte, und ich denke jetzt nicht in erster Linie an den stockend vorgetragenen Heiratsantrag, bei dem kühl abgeklärte Differenziertheit in der Antwort gewöhnlich wenig geschätzt wird. Sondern ich denke an Situationen, wo es nötig ist, Grundrechte zu verteidigen! Oder wo die Verletzung von Grundrechten bagatellisiert wird. Wenn es gilt, überprüfbare Fakten gegen jene zu vertreten, die sie mit fadenscheinigen Einwänden in Zweifel ziehen; oder wenn Werte und Regeln ausgehöhlt werden, ohne die eine Demokratie nicht funktionieren kann.  Dann muss man nicht mit Erklärungen, und schon gar nicht mit verharmlosenden Erklärungen oder mit verbrämendem Geschwurbel replizieren, sondern mit unmissverständlicher Eindeutigkeit, mit Wucht, Druck und Nachdruck. Churchill meinte: «If you have an important point to make, don’t try to be subtle or clever. Use a pile driver. Hit the point once. Then come back and hit it again. Then hit it a third time – a tremendous whack» - ein ungeheurer Schlag. Natürlich nicht bei jedem Votum, und auch nicht dort, wo offene Fragen bestehen, oder wo man selbst nicht sicher ist. Aber nur, weil man nicht alles weiss, weiss man nicht nichts! Wenn einer in der Ukraine ganze Städte bombardieren und Unschuldige umbringen lässt, weil er denkt, seine tatsächlichen oder eingebildeten Kränkungen würden ihn dazu berechtigen, dann weiss man, dass das falsch ist, und nicht «bedauerlich» oder «halbfalsch» oder «zwar falsch, aber verständlich». Wenn einer heute noch behauptet, die Erde sei flach, muss man ihn nicht fragen, ob er bereit sei, dies im Bundeshaus auszudiskutieren, sondern, ob ihm noch zu helfen ist. Und wenn einer in Washington oder anderswo ein Wahlergebnis nicht akzeptieren kann, nur weil ihm das Resultat nicht passt, dann ist das nicht Beleg einer gesunden, skeptischen Einstellung, sondern Symptom politischer Unreife.

Meine Damen und Herren, die Menschen, die sich für diese Grundrechte und Grundwerte einsetzen, sind oft jene Politiker, die Sie wählen, die zwar viel gescholten und oft ausgepfiffen werden, aber in Tat und Wahrheit einer Tätigkeit nachgehen, die immer mehr Mut erfordert. Denn von diesen Politikerinnen und Politikern hängt es massgeblich ab, welche neuen Gesetze geschrieben und welche alten Gesetze revidiert werden. Sie sind es - sofern sie ihren Beruf ernst nehmen -, die die Hand aufheben, wenn jemand die Gewaltenteilung übergehen, die Unabhängigkeit der Justiz hinterfragen, bestehende Gesetze unterlaufen, den nationalen Zusammenhalt, die errungenen politischen Rechte oder die Sozialwerke gefährden will, und zwar selbst dann, wenn sie wissen, dass es nicht populär ist und dass man Drohbriefe bekommt und dass deswegen die eigenen Kinder gehänselt werden. Wir wählen sie, damit sie Klartext sprechen, wenn es um Grundsätze geht, und sich nicht dort einreihen, wo gerade die Mehrheit vermutet wird, und damit sie - wenn nötig - dabei einen Rammbock verwenden, bildlich gesprochen, statt sich in diplomatischen Schachtelsätzen zu verlieren. Die Erfahrung zeigt im Übrigen, dass es dafür nicht in erster Linie einen akademischen Titel braucht, sondern «Füdle». Und «Füdle» hat nicht jeder, es sieht nur so aus.

Liebe Forscherinnen und Forscher, liebe Studienabgängerinnen und -abgänger: Die Erfahrung, die ich also machte, war, dass es immer notwendig und vorteilhaft ist, einer Sache auf den Grund zu gehen, sie differenziert zu schildern, abzuwägen und vorsichtig zu sein, wenn Schlussfolgerungen gezogen werden; dass es aber gleichzeitig Situationen gibt, wo diese Abwägungen zu eindeutigen Urteilen und entschlossenen Stellungnahmen führen müssen, dass es dann Mut braucht, die Dinge beim Namen zu nennen, auch wenn das einen die Karriere kosten kann; und dass das verdammt schwierig sein kann, weil man nie ganz sicher ist.

Am heutigen Tag gratuliere ich Ihnen allen, die Sie heute geehrt werden, und natürlich gratuliere ich auch der Universität Zürich zu ihrem 190-jährigen Bestehen. Diese Universität hat nicht nur eine sehr gute Mensa, sondern sie geniesst als grösste Volluniversität des Landes auch international einen ausgezeichneten Ruf, was sich in den Rankings zeigt und auch daran, dass der ETH-Rat zuweilen ihre Rektoren abwirbt. Allen, die von hier aus in die stürmische Berufswelt treten, wünsche ich eine sinnstiftende, motivierende Arbeit, Gesundheit und Mut: Es ist einfach, die Wahrheit zu sagen, wenn sie opportun ist. Aber was ist, wenn nicht?! Und wenn ich Ihnen deshalb für Ihre Zukunft einen einzigen Rat, oder besser einen persönlichen Wunsch mitgeben darf, dann ist es der, dass Sie für sich selber die Mahnung Bohrs mit einem Zusatz ergänzen: «Never speak more clearly than you think. But when you know, and you are sure, then speak, and speak very clearly».

Fussnoten: 

  • (1):"Henri Poincaré, 1854-1912, nicht zu verwechseln mit dem Präsidenten Raymond Poincaré, 1860-1934, der mit algebraischer Topologie nichts am Hut hatte."
  • (2):"Zach Weinersmith, Science: Abriged Beyond the Point of Usefulness."


Adresse für Rückfragen

Kommunikation
Bundeshaus West
CH-3003 Bern
+41 58 462 37 91


Herausgeber

Bundeskanzlei
http://www.bk.admin.ch

https://www.admin.ch/content/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-94617.html