Föderalismus in Zeiten der Krise

Bern, 17.03.2023 - Beobachtungen und Vorschläge aus persönlicher Sicht Einführung von Bundeskanzler Walter Thurnherr anlässlich der 60. Plenarsitzung der Ostschweizer Regierungskonferenz vom 16. März 2023 in Appenzell

«Ich halte die Dramatik Föderalismus-Zentralismus für wichtig. Nur Föderalismus ist tödlich, nur Zentralismus langweilig»

Friedrich Dürrenmatt 1966

«Über dieser Welt voll Possen und Sünden stürzte der Himmel heute Nachmittag herein, zwar ohne Krachen, nein, vielmehr als ein weiches Tuch, und verschleierte alles»

Robert Walser 1902 

 

1. Zum Föderalismus

Es gibt Titel von Ansprachen und Vorträgen, bei denen man reflexartig den Zusatz «aus persönlicher Sicht» anhängen muss, will man nicht zwischen die Fronten geraten. Kommt der Begriff «Föderalismus» im Titel vor, empfiehlt es sich, den mässigenden Zusatz bereits voranzustellen, schliesslich wird bei wenigen Themen der schweizerischen Politik schon so lange und so heftig gestritten wie auf dem Gebiet der föderalistischen Aufgabenteilung. Kaum ein Bereich in unserem hauseigenen «institutionellen Abkommen» von 1848 ist in den letzten 175 Jahren so oft revidiert, präzisiert und in Frage gestellt worden wie jene Artikel der Bundesverfassung, die die Kompetenzen zwischen Bund und den Kantonen aufteilen. 

Es ist offensichtlich: Es ging und es geht dabei um viel. Die Stimmung war zuweilen schon vor Corona gereizt, und oft hatten alle, die sich an der Debatte der letzten Jahre beteiligten, das Gefühl, ihr Widerspruch sei Selbstverteidigung. Denkwürdig bleibt in Erinnerung, wie ein Präsident der KdK vor einigen Jahren bei einer Aussprache über die Mitwirkung der Kantone in der Europapolitik mit Verweis auf Artikel 1 der Bundesverfassung (1), mit Blick auf die anderen anwesenden Kantonsvertreter und mit der Körperhaltung eines bis zum physischen Kampf bereiten Standesvertreters dem Bundespräsidenten über den Tisch hinweg den Satz entgegenschleuderte: «La Suisse, ce n’est pas vous. C’est nous!» - und wie der angegriffene Bundespräsident, im Wissen, dass der KdK-Vertreter Mühe mit dem Verständnis der deutschen Sprache hatte, sich darauf kurzerhand entschloss, die Sitzung nicht mehr auf Französisch, sondern auf Hochdeutsch weiterzuführen.

Dabei hatte der ausgeprägte Föderalismus den Bundesstaat erst möglich gemacht. Nicht die zentralistische Bindung, und auch nicht die strenge Gleichheit wie in anderen Republiken, sondern ein elastisches Verhältnis zwischen Bund und Gliedstaaten mit Phasen trotziger Eigenständigkeit bei den Letzteren - und eine Bundespolitik, die zunehmend sicherstellte, dass trotz markantem Föderalismus nicht zu grosse Unterschiede im Land entstanden sind. 

Denn historisch gesehen war der Föderalismus nichts anderes als die einzige Möglichkeit, aus dem unübersichtlichen Haufen zentrifugaler Kräfte des erweiterten Alpenraums ein Bündnis zur Sicherung gemeinsamer Interessen zu bilden: ein Versprechen, dabei sein zu können, ohne dass einem in die wichtigen, inneren Angelegenheiten reingeredet wird. Das, und oft erst das, hat den Bürgerinnen und Bürgern eigenständiger Dörfer, Talschaften und Städte die Identifikation mit dem grösseren, sprachlich, konfessionell und politisch damals unerhört heterogenen, und in vielen Dingen weiterhin unverstandenen Land überhaupt erst möglich gemacht. Bis heute kann man diese zutiefst archaische und jeder übergreifenden Ordnung gegenüber kritisch eingestellte Kraft spüren, im Jura genauso wie im aufmüpfigen Schächental oder Rheintal, aber auch etwa dann, wenn die Walliser Regierung nach der Annahme der Zweitwohnungsinitiative dem Bundesrat ein dampfendes und wütendes Schreiben zukommen lässt. Und Bundesbern tut gut daran, diese Kraft auch künftig nicht zu unterschätzen.

Darüber hinaus hat der Bund, oft in Abstimmung mit den Kantonen, in den letzten hundert Jahren das ganze Land mit einer derartigen Vielfalt von Ausgleichsmassnahmen und Subventionen überzogen, dass der Föderalismus, anders etwa als in Belgien, den USA oder Grossbritannien, die verschiedenen Landesteile nie entscheidend auseinandergetrieben hat. Mittels Finanzausgleich oder Regionalpolitik, über eine flächendeckende und leistungsstarke Grundversorgung durch die Post, das Bahn- und Postautonetz sowie einer rekorddichten Breitbanderschliessung, bis hin zu den Direktzahlungen, den nationalen Sozialversicherungen und den Wohneigentumsförderungen fliessen jährlich Milliarden und Millionen kreuz und quer durchs ganze Land. Viel umfassender und viel umsichtiger, als sich dessen die meisten bewusst sind, hat die Schweiz damit kantonale Disparitäten, und längerfristig wohl auch regionale Animositäten, ausgeglichen, abgeschwächt oder gar nicht erst aufkommen lassen. Kaum erstaunlich deshalb, dass die sogenannte «Umzugsrate» in der Schweiz -also der Anteil der Bevölkerung, der jährlich umzieht - seit Jahren stabil und relativ bescheiden bleibt (2). 

Natürlich ist der Hinweis richtig, dass die Schweiz aus vielen Minderheiten und Mehrheiten besteht, dass diese sich oft unübersichtlich und kantonsübergreifend überlagern und dass dies insgesamt zu einer Verflechtung der regionalen Interessen und damit zur Stabilisierung der Verhältnisse führt. Aber es genügt eben, dass eine einzige Minderheit oder Region sich ungerecht behandelt fühlt, um das ganze schweizerische Gefüge ins Wanken zu bringen. Ein kluger Föderalismus hilft, dieses Risiko zu vermindern (3).

Nur, auch um die Ausgangslage vor den jüngsten Krisen zu verdeutlichen - und die Situation war eben komplizierter als man es sich später bewusst machte: Was genau kluger Föderalismus ist, war von Anfang an umstritten. Zu Beginn, 1848/1849: die Einführung der «Personenfreizügigkeit», die Schaffung eines innerschweizerischen «Freihandels» (4) und die Gründung einer eidgenössischen Universität (wie die spätere ETH noch in der ersten Verfassung hiess, die allesamt regelrechte gesetzgeberische Zangengeburten waren und erst durch den achtlosen und eiligen Geschichtsunterricht späterer Jahrzehnte den Eindruck eines befreiten Aufbruchs hinterliessen (5). Später, zum Teil viel später (6), die für die einen errungenen für die anderen gestohlenen Kompetenzen des Bundes im Bereich der Sozialversicherungen, des Verkehrs oder der Energie, die ebenfalls erst nach endlosen Debatten und Zerwürfnissen definiert wurden. Und heute: wenn es um die Finanzierung von Velowegen und Kinderkrippen geht, um Regionalverkehr, Raumplanung oder um die Pandemiebekämpfung. Alles war stets kontrovers und hinterfragt, und im Grundsatz nach demselben Muster debattiert: zuerst fraglos eine Kompetenz der Kantone, am Schluss dann doch oft beim Bund. Noch in den 1960er-Jahren lobte Dietrich Schindler den Bundesrat dafür, dass er den Bau der Autobahnen «durch das dezentralisierteste aller denkbaren Verfahren» verwirklichen würde und sich im Wesentlichen darauf beschränke sicherzustellen, dass die Teilstücke an den Kantonsgrenzen zusammenkämen. Einige Stumpenlinien und mehrere unselige Bauverzögerungen später fiel das Kompliment wesentlich gedämpfter aus, und 2008 wurde auch diese Zuständigkeit dem Bund übertragen. Von der Zeitmessung über die Luftfahrt bis zu den Standards der Digitalisierung: Die normative Kraft des technologischen Fortschritts und die lockenden finanziellen Angebote aus Bundesbern führten fast unabänderlich zu mehr Integration und nationaler Regulierung - aber nie ohne Bedenken, Befürchtungen, Widerstand und Frustrationen insbesondere bei einem Teil jener, die Kompetenzen abgeben mussten. 1993 wurde die KdK gegründet, 2008 - gewissermassen als Zeichen verstärkter Präsenz und grösserer Ansprüche - das Haus der Kantone eröffnet. Einzelne Regierungskonferenzen bauten ihre Stäbe aus, und wo es mehr Stäbe gibt, werden bald mehr Briefe und Pressemitteilungen verfasst, die mit mehr farbigen Adjektiven mehr Einbezug fordern und überhaupt mehr Respekt vor den kantonalen Institutionen. Auf der anderen Seite der Bundesrat, der schon vorher über schlagkräftige Stäbe verfügte, der Gremien schaffte, in denen sich die Kantone sogenannt «einbringen» konnten, der sich zwar in der Regel gegenüber den föderalistischen Befindlichkeiten aufgeschlossen zeigte, gelegentlich aber doch pikiert reagierte und öfters ratlos von den verschiedenen Haltungen der Kantone Kenntnis nahm. Mehr als einmal in den letzten zwanzig Jahren hatte man das Gefühl, im Verhältnis zwischen den beiden, dem Bund und den Kantonen, sei der Wurm drin - als ob der Föderalismus nicht mehr als Prinzip verstanden, sondern zur Hauptsache als Argument verwendet würde, um die eigenen Kosten, den Aufwand und die Verantwortung klein zu halten.  Und wüsste man nicht, dass es schon vorher, eigentlich schon immer so gewesen war, und dass es alles in allem ja gar nicht so schlecht steht um das Land, das dieses Verhältnis und diesen Bund einfasst, wir müssten uns tatsächlich Sorgen machen und schon aus staatspolitischen Gründen diese Besprechung in Appenzell auf eine zweiwöchige gemeinsame und stille Besinnung im Alpstein ausweiten. 

Trotzdem wäre es im Hinblick auf die Feierlichkeiten zu den 175 Jahren Bundesverfassung wohl redlicher, die Entstehung und Entwicklung des Bundesstaats zumindest in dieser Beziehung weniger als einen glanzvoll gemeisterten Sprung aus der dunklen Vorzeit in eine helle und freundeidgenössische Brüderlichkeit zu verstehen, sondern eher als ein dauerndes, schwieriges und insgesamt erfolgreiches Ringen und Würgen um gemeinsame Regeln und auszuhaltende Unterschiede. Das Verhältnis zwischen Bund und Kantonen war sachlich, zweckdienlich, gefällig und zwischendurch gespannt. Nicht restlos geklärt, weil es auch nicht säuberlich aufgeschlüsselt werden kann. Oft konstruktiv und manchmal etwas giftig, weil es auch ein Verhältnis zwischen Menschen ist. In Gesetz und Verfassung scheinbar klar, in der Realität unerhört komplex, empfindlich, teilweise undurchsichtig, und faszinierend wie ein surrender Brutkasten voller unscheinbarer Eier, aus denen dann und wann plötzlich etwas Überraschendes herauskrabbelt…  (7) Und dann kamen die Krisen.

2. Die jüngsten Krisen 

Die Schweiz – und hier meine ich Bund und Kantone- war auf die Pandemie nicht genügend vorbereitet, und wer unsere Krisenbewältigung der letzten dreissig Jahre kennt, hätte gestaunt, wenn sie es gewesen wäre. Wie in (einigen wenigen) anderen glücklichen Ländern, sind auch wir davon ausgegangen, den «Ernstfall» nicht bis zum Letzten abschätzen zu müssen. Katastrophen dieser Dimension, so unser Bauchgefühl bis 2020, finden zwar statt, aber anderswo. Die Schweiz hilft, spendet, und sie «beobachtet mit Sorge und mit Anteilnahme», wie es jeweils heisst. Aber wer vor fünf Jahren noch eine Übersterblichkeit von 10'000 Toten in einem einzigen Jahr, Maskenpflicht, Impfnachweise und praktischer Stillstand des öffentlichen Lebens über Notrecht vorausgesagt, geschweige denn vorbereitet hätte, den hätte man als Spinner abgetan, und man wäre ihm aus dem Weg gegangen.

Die Pandemie traf zudem einen Nerv des schweizerischen Politikverständnisses, oder besser gesagt, sie strapazierte das gesamte politisch-vegetative Nervensystem der Eidgenossenschaft. Denn politische Fragen werden bei uns traditionell in erster Linie «mehrheitsbasiert» und höchstens indirekt «evidenzbasiert» entschieden, und plötzlich war es scheinbar umgekehrt: Nicht politische Mehrheitsbeschaffer beherrschten die Bühne, sondern Epidemiologen. Auf einmal wurde nicht mehr lange konsultiert und beraten, sondern im Schnellstverfahren entschieden und verordnet. Vernehmlassungen schrumpften auf Blitzumfragen bei der GdK zusammen, und über Nacht wurde der vorher gerühmte Föderalismus zum stipulierten Ärgernis, um nicht zu sagen zum peinlichen Problem schablonisiert. Schon der Umstand, dass eine Massnahme in einem Kanton ergriffen und im anderen abgelehnt worden war, wurde nicht nur in den Medien plötzlich als ausgesprochen stossend empfunden. Als ob «Föderalismus» nicht genau bedeuten würde, Unterschiede zu ermöglichen und zu ertragen, wurde schleunigst ein Artikel verfasst oder ein Vorstoss eingereicht, ein Mikrofon gesucht, die Unübersichtlichkeit beklagt und eine nationale Vorschrift eingefordert (ich übertreibe. Aber nur ein wenig).  Um sich klarer auszudrücken, griff man auf den Wortschatz der Textilbranche zurück: Den Begriff «Flickenteppich» findet man 2020 mehr als sechs Mal so oft auf der Schweizer Mediendatenbank wie 2019 (8). Regelrecht zornig wurde der Föderalismus in einzelnen Kommentaren als querulantiger Unwille einzelner Kantone definiert, die sich aus Eigennutz, Unfähigkeit oder aus politischem Kalkül einer gesamtschweizerischen Lösung verweigerten. Entschlossen, zuweilen frustriert, wehrten sich einzelne Kantone, oder sie beschwerten sich über Schnellschüsse der Bundesbehörden, die den Vollzug ihrer Vorschläge völlig unterschätzten. Die NZZ am Sonntag schrieb von überforderten Kantonsregierungen (9), der Tagesanzeiger meinte: «Das Nichtstun hat System» (10) (und meinte das Nichtstun der Kantone), und die Weltwoche bilanzierte: «Durcheinanderland Schweiz. Der Föderalismus ist in eine Falle geraten. Die Verantwortlichkeiten sind nicht mehr klar. Die Aufgaben von Bund und Kanton gehören wieder klar getrennt» (11). 

Dabei waren es die Kantone, die als erste handelten. Eva Maria Belser von der Universität Freiburg schrieb später: «Als das BAG noch dazu riet, die Hände zu waschen und in die Armbeuge zu niesen, erklärten die ersten Kantone bereits den Notstand, stellten Quarantäneunterkünfte bereit und aktivierten ihre Krisenstäbe» (12). Mindestens die Kantone Tessin und Genf nahmen die Situation Ende Februar 2020 ernster als der Chefinfektiologe des BAG – zu Recht, wie sich herausstellte. Und auch später gab es Kantone, deren Politik erfolgreicher war als jene des Bundes, zum Beispiel das Testregime in Graubünden. Natürlich gab es zuweilen Zank, vor allem zu Beginn der Krise. Aber ist Uneinigkeit unter 26 verschiedenen Regierungen nicht der Normalzustand? Darüber hinaus: Wo im Epidemiengesetz steht, dass der Bundesrat die Fachdirektorenkonferenzen konsultiert, und nicht die Kantone? Und wenn wir schon die Wahrnehmung der Kantone ansprechen: Hatte nicht der Bundesrat im Sommer 2020 bewusst in Kauf genommen, dass die Kantone sich beim Wiederanstieg der Ansteckungen nicht auf gemeinsame Verschärfungen einigen würden? (13) Und überhaupt, was ist, bzw. was war mit der fiskalischen Äquivalenz? Wer trägt denn die Hauptlast der Krise? Und so weiter. Was also war schiefgegangen, und was haben wir daraus gelernt? 

Bevor wir einigermassen in der Lage waren, uns einen Überblick zu verschaffen, um gemeinsam diesen Fragen nachzugehen, wurden wir bereits von der nächsten Krise überrumpelt, und wie bei der Covid-Krise führte der mit zügelloser Gewalt geführte Krieg gegen die Ukraine, bzw. die damit verknüpfte Energiemangellage zu vereinzelten Spannungen im föderalistischen Gebälk. Dann folgten die wirtschaftlichen Probleme, die zweistelligen Inflationsraten in unseren Nachbarstaaten, die Folgen der Null-Covid-Politik in China, die Halbleiterknappheiten, die weltweit steigenden Nahrungsmittelpreise und so weiter und so fort.  Spätestens mit dem Exodus von über 18 Millionen Menschen aus dem von der Geschichte so kontaminierten Gebiet zwischen Polen und Russland und den über 80'000 vertriebenen  Frauen und Kinder, die hier in der Schweiz um Schutz nachgesucht und diesen dank grosser und grosszügiger Hilfe in allen Kantonen auch gefunden haben, dämmerte es hierzulande all jenen, die es nicht schon vorher gemerkt hatten, dass wir uns von den selbstverständlich gewordenen Sicherheiten vergangener Jahrzehnte verabschieden müssen, und hätte Pedro Lenz denselben Titel nicht bereits für einen Erzählband verwendet, so wäre über dem aktuellen Aussenpolitischen Bericht des Bundesrates wohl die Zeile gestanden: «Plötzlech hets di am Füdle». Tatsächlich können wir uns künftig nicht mehr ohne Weiteres auf die eingespielten, austarierten und zeitlich fast unlimitierten Prozesse auf allen staatlichen Ebenen verlassen, sondern werden stattdessen allenfalls hastige und einschneidende Entscheide fällen müssen. Und genau das wird den Föderalismus ganz bestimmt noch mehr belasten.

Also wie geht man weiter? Zunächst, hoffentlich, mit Umsicht, dann aber konsequent. Denn auch wenn wir das eidgenössische Verständnis hinterfragen sollten, national überstandenen Ärger und Verunsicherung dem Frieden zuliebe entweder rasch abzuschütteln oder deren Klärung mit umfassenden Evaluationsaufträgen bewusst auf einen weit entfernten Zeitpunkt zu verschieben, an dem der politische Alltag wieder von ganz anderen Problemen und Problemchen beherrscht wird, empfahl es sich zumindest im Fall der Corona-Pandemie, etwas abzuwarten, bis sich die Temperaturen gesenkt und der Pulverdampf verzogen hat. Gleichzeitig gilt es, die Aufarbeitung nun anzugehen, auch wenn sie vielleicht unangenehm ist. Von allen nützlichen, zweifelhaften, verärgerten oder provokativen Schlussfolgerungen, die in den letzten Monaten diskutiert und mit den Erfahrungen der Ukraine-Krise angereichert worden sind, möchte ich nur vier Bereiche herausgreifen. Und ich tue dies nicht, weil der Bund besonders prädestiniert für ein abschliessendes Urteil wäre, ganz im Gegenteil: auch wenn insgesamt die Pandemie im Vergleich zu anderen Seuchen und den umliegenden Ländern glimpflich abgelaufen ist, hat der Bundesrat eine eigene, recht lange und zum Teil peinliche Pendenzenliste erstellen müssen. Ich zähle diese vier Punkte auf, weil sie mir wie gesagt «aus persönlicher Sicht» im Zusammenhang mit dem Föderalismus prüfenswert erscheinen. 

3. Vier mögliche Handlungsfelder

Erstens, die Rechtsgrundlagen: Sowohl das Epidemiengesetz als auch das Landesversorgungsgesetz sind nicht die besten Grundlagen zur Bewältigung von Krisen. Die scheinbar plausible Einteilung in normale, besondere und ausserordentliche Lagen zeigte spätestens dann ihre Schwächen, als der Eindruck entstand, man würde die Verantwortung wieder in die Hände der Kantone zurückgeben, als man im Juni 2020 von der ausserordentlichen in die besondere Lage zurückkehrte. In der besonderen Lage sind eben beide, Kantone und Bund, verantwortlich, und als die Pandemie länger dauerte, viel länger als man es sich vorstellte, als das Gesetz vor wenigen Jahren das letzte Mal revidiert worden war, merkten wohl alle Beteiligten, dass dieser seltsame Zwitterzustand zwischen angestrengter Normalität und offensichtlicher Krise sorgfältiger geregelt werden muss. Darüber hinaus mussten vor drei Jahren im Dringlichkeitsverfahren die gesetzlichen Grundlagen für Bürgschaftskredite und Härtefallentschädigungen geschaffen werden, mit zum Teil langwierigen und schwierigen Verhandlungen zwischen Bund und Kantonen über den anzuwendenden Finanzierungsschlüssel. (14) Es stellt sich die Frage, wie weit man sich darauf besser vorbereiten kann. Wir werden auch die Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen im Fall einer Pandemiebekämpfung überprüfen müssen. Eindeutigere Verantwortlichkeiten und einfachere Zuständigkeiten ersparen Reibungen und entlasten die Konsultationen. Schliesslich sollten wir klären, wie wir die Krise besser verfolgen können. Dass wir bis am Schluss nicht in der Lage waren, digital und zeitnah festzustellen, wie viele Covid-Patienten wir in unseren Spitälern pflegen, spricht für sich (aber nicht für uns). Das sind nur einige Punkte, andere dürften hinzukommen. Das Landesversorgungsgesetz atmet noch den Geist des Zweiten Weltkriegs, als wir uns mit Pflichtlagern voller Schmiermitteln, Zucker und Kaffee weiterhelfen mussten. Zur Verhinderung von Strommangellagen ist es weniger gut geeignet. Dieses Gesetz wird in den nächsten Monaten evaluiert.

Zweitens, das Krisenmanagement. Sowohl auf Stufe Bund als auch auf Stufe Kantone empfiehlt es sich meines Erachtens, die Zusammenarbeit unter den Stellen und Behörden auf notwendige Verbesserungen zu überprüfen. Es ist zum Beispiel auch für die kantonalen Stellen nur zum Teil nachvollziehbar, weshalb die Federführung zur Bewältigung einer Krise im Fall der Strommangellage ausgerechnet dann von einem eidgenössischen Departement zum anderen wechseln soll, wenn die Krise ausbricht: Im UVEK versucht man die Krise mit einigen hundert Mitarbeitenden des BFE abzuwenden, aber sollte sie trotzdem eintreten, wird sie von wenigen zehn Mitarbeitenden im BWL (des WBF) bewältigt werden. In der Corona Krise kam es reihenweise zu Abspracheschwierigkeiten, weil die einen im BAG «nur» für die Bestellung von Sanitätsmaterial zuständig waren, und die anderen im Koordinierten Sanitätsdienst (KSD/VBS) «nur» für dessen Beschaffung. Es stellt sich auch die Frage, ob es nicht klüger ist, eine permanente Stabsstelle beim Bund zu bezeichnen, die über das notwendige Knowhow des Krisenmanagements, einen eingespielten SPOC (15) für die Kantone sowie für die Wissenschaft und über Ressourcen verfügt, um rasch einen der aktuellen Krise angepassten tauglichen Krisenstab auf Stufe Bund aufzubauen. Oder es fragt sich, welche Mechanismen neu angedacht und neu eingesetzt werden müssen, damit man eine Krise früher als solche erkennt, statt sie zu verdrängen. Auch dazu werden wir dem Bundesrat in den nächsten Wochen Vorschläge unterbreiten. Kurz, je besser das Zusammenspiel unter den Behörden auf Stufe Bund, desto einfacher ist auch die Absprache, Zusammenarbeit und Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen. Bei Letzteren wurden ebenfalls eine Reihe, zum Teil selbstkritischer und bestimmt hilfreicher Evaluationen vorgenommen. Denn auch auf dieser Ebene sah man aus dem ganzen Spektrum etwas:  von höchst professioneller Arbeit bis zu Anzeichen der strukturellen Überforderung. Mängel festzustellen in einer Krise, ist nicht das Problem; sie anschliessend nicht anzugehen, wäre jedoch ein Fehler. 

Drittens, die Zusammenarbeit unter den Kantonen. Mehr als einmal musste der Bund während der Corona-Krise als Vermittler, Finanzierer oder Koordinator einspringen, und zwar auf Feldern, die gemäss Gesetz und Verfassung von den Kantonen beackert werden. Dass im einen Kanton Werbung für die offenen Restaurants gemacht wurde, weil die Restaurants im Nachbarkanton geschlossen waren, hatte in der restlichen Schweiz für Verwunderung gesorgt. Ich frage mich – aber Sie können das besser beurteilen – ob zumindest regional allenfalls noch mehr Absprache und Koordination möglich wäre. Gerade im Fall der Pandemie, als sich die Seuche von Süden nach Norden, bzw. später von Westen nach Osten ausbreitete, hätten und haben sich regionale Absprachen gelohnt, und im Rahmen der Verkehrsplanung oder der Raumplanung ist man längst zu einer überkantonalen, nicht nationalen aber regionalen Kooperation geschritten, die sich bewährt hat. M.E. könnte man in der Krise auf dieser Zusammenarbeit aufbauen, bevor wieder eine Kantonsregierung in Bern anruft, sie habe nur eine einzige Lungenmaschine, dafür drei Patienten, die sie in andere Kantone verlegen müsse.

Schliesslich, viertens Kommunikation. Zu Recht, auch wenn oft etwas billig, wird in Krisen auf die Bedeutung der schnellen, transparenten und regelmässigen Kommunikation hingewiesen. Selbst wenn man sonst nichts versteht, weder von der Stromversorgung im Allgemeinen, noch von der Netzstabilität im Speziellen, von Kommunikation meint jeder etwas zu verstehen, weshalb schon deshalb dieser Punkt in jedem Debriefing und jeder Zeitungskolumne seinen festen Platz hat (hier besteht eine Verbindung zwischen Föderalismus und Fussball). Aber tatsächlich ist Kommunikation entscheidend, und zwar nicht nur jene gegen aussen, um die Bevölkerung zu informieren, sondern auch jene intern, um alle Kräfte zu koordinieren. Nicht in allen, aber in vielen Krisen gelingt die Bewältigung nur, wenn alle Staatsebenen - Bund, Kantone und Gemeinden - eng zusammenarbeiten. Und gerade weil die ordentlichen Konsultations- und damit auch die üblichen Kommunikationskanäle in einer Krise fehlen oder abgekürzt werden müssen, sollten eigentlich alle, die eine Krise bewältigen, von Amtes wegen verpflichtet werden, pro Tag mindestens doppelt so häufig zum Telefon zu greifen wie zuvor. Auf jeden Fall müssen wir jetzt klären, wie man einander konsultieren soll und kann, wenn es pressiert, und auch da kann die Digitalisierung allenfalls einen Beitrag leisten. Im Übrigen kann man sich auch in Krisenzeiten persönlich treffen, vor allem, wenn diese länger dauern. Ein offenes direktes Gespräch fördert das gegenseitige Verständnis im föderalen Gefüge oft mehr als das verbissene Bandenspiel über die Medien und ist bestimmt aufbauender als das Abfeuern von gepfefferten Pressemitteilungen, vom Haus der Kantone über drei Gassen hinweg Richtung Bundeshaus und von dort wieder zurück.

Schluss

Meine Damen und Herren, kürzlich wurde ich darauf aufmerksam gemacht, dass die Totenmaske des ersten Bundeskanzlers im Ratssaal des Kantons Appenzell Ausserhoden (16) oben an die Wand gehängt wurde (17). Die Hintergründe und Motive sind mir noch nicht ganz klar. Aber angesichts der Wallungen und Leidenschaften, die zuweilen bei Diskussionen um den «richtigen» Föderalismus entstehen, habe ich in einer ruhelosen Nacht vor der Zusage auf Ihre Einladung im Halbschlaf die Wahrscheinlichkeit abgewogen, dass die Totenmaske des aktuellen Bundeskanzlers dereinst im Ratssaal von Appenzell Innerrhoden an die Wand genagelt wird. Und beim Aufschrecken aus diesem martialischen Traum habe ich in mich hineingemurmelt, dass es tatsächlich kompliziert sei mit dem Föderalismus und dass es schon etwas auf sich habe, wenn die Briten früher beim Abendgebet den Schöpfer gebeten haben (sollen): «Herr, hilf mir bei der Suche nach der Wahrheit und verschone mich vor jenen, die sie gefunden haben». Der Föderalismus ist keine einfache Konstruktion. Denn er ist weder ein Freibrief für jene, die überzeugt sind, die Schweiz nach pseudo-effizienten Kriterien neu organisieren zu müssen, weil irgendwo ein Skaleneffekt winkt, noch ist er ein Schlachtross für diejenigen, die «Föderalismus» mit «Forderung nach mehr Einbezug», dem «Barrikadenbau zum Schutz vor vernünftiger Aufgabenteilung» oder mit dem «Widerstand gegen hinterhältige Verschwörungen des Bundesrates» verwechseln. Er ist im Gegenteil eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass sich die mit politischen Rechten ausgestatteten Bürgerinnen und Bürger wie handlungsfähige Subjekte verstehen, und nicht wie verschupfte und vergessen gegangene Objekte, die weit weg beschlossene Entscheide auszuführen oder zu ertragen gezwungen sind (18). Es ist dem Föderalismus auch in der Krise Sorge zu tragen, und damit uns das gelingt, müssen wir jetzt die Köpfe zusammenstecken, die eine oder andere Verbesserung vornehmen und dabei auch über den eigenen Schatten springen.

Fussnoten:

  • (1): «Das Schweizervolk und die Kantone Zürich, Bern, Luzern…. bilden die Schweizerische Eidgenossenschaft».
  • (2): Nahezu drei Viertel aller Personen, die umziehen, bleiben im selben Kanton. Die Umzugsrate ist nicht dort am grössten, wo das BIP am kleinsten ist. Sondern im Gegenteil: Sie ist am kleinsten in Uri, Appenzell Innerrhoden, in Nid- und in Obwalden. 
  • (3): Das dies in der Schweiz relativ zu anderen Ländern bis anhin relativ gut gelungen ist, sieht man auch in: Andrès Rodrìguez-Pose: «The revenge of the places that don’t matter”, LSE Research Online.
  • (4): «Binnenmarkt» wäre ein (zu) grosses Wort, schliesslich stammt das Bundesgesetz über den Binnenmarkt erst aus dem Jahr 1995. Im Wesentlichen ging es 1848/49 um die Abschaffung der Zölle. Die vier Kantone Wallis, Tessin, Uri und Graubünden erhoben damals so viele Zölle, wie alle anderen Kantone zusammen. Die Kompensation dieser Einnahmen war Gegenstand harter Verhandlungen, sowohl bei der Ausarbeitung der Verfassung als auch anschliessend beim Zollgesetz von 1849.
  • (5): Die postnatalen Bauchschmerzen und Traumata hielten auch nach 1848 lange an. Nicht nur bei den Kantonen, sondern auch bei der Bevölkerung gab es zähen Widerstand. Der Historiker Herbert Lüthy zitiert hierfür auch Jacob Burckhardt, für den mit Dampfmaschine und Eisenbahn die Welt aufhörte, lebenswert zu sein, der vor der Pöbeldemokratie des schweizerischen Radikalismus sein Haupt verhüllte und der wohl den Kleinstaat lobte, aber nicht den schweizerischen, sondern den des perikleischen Athen, des medizeischen Florenz und des erasmischen Basel. Und er nennt Jeremias Gotthelf, «der so exemplarisch den Altberner oder vielmehr den Emmentaler Geist gegen den Zeitgeist setzte und prophetisch scheltend den Einbruch der politischen Pest, des gesetzgeberischen Staates, der weltlichen Schule, der modernen Wirtschaft und der hergelaufenen Nichtemmentaler in die patriarchische Welt der Bauerndynastien vom Hunghafen und vom Ankenhof verdammt, die sich bisher so gottesfürchtig mit dem Katechismus und dem fetten Ertrag ihrer Weiden begnügt hatten».
  • (6): Es ist nicht mehr allen Beobachtern bewusst, wie spät auf gewissen Gebieten schweizerisch gesamtheitliche Lösungen festgelegt wurden: Die IV: 1960, die Arbeitslosenversicherung: 1977, die berufliche Vorsorge: 1982, die Energiepolitik in der Bundesverfassung verankert: 1990.
  • (7): Wahrscheinlich meinte darum Peter von Matt, der Föderalismus sei wie ein Huhn, das man nicht schlachten könne, ohne auf die Eier zu verzichten, und das man nicht leben lassen könne, ohne dass es da und dort stinkt..
  • (8): Vgl. dazu: E-M. Belser, «Existierte die Schweiz während der Pandemie? Die Eigenheiten der Schweiz und ihre Eignung für den Krisenfall» in «Weissbuch Corona», die Schweiz nach der Pandemie, NZZ Libro, 2021.
  • (9): «Die Pandemie überfordert die Kantonsregierungen», NZZaS vom 17. Oktober 2022.
  • (10): TA vom 26. Oktober 2020.
  • (11): Weltwoche vom 2. Februar 2023
  • (12): Weissbuch Corona, NZZ Libro, p. 97
  • (13): Dies natürlich ganz im Gegensatz zur Wahrnehmung des Bundesrates, der wiederholt auf eine am 22. Oktober 2020 gemeinsam (GDK und EDI-BAG) verabschiedete Strategie verwies. Gerade weil aufgrund der Aufgabenverflechtung zwischen Bund und Kantonen Abklärungen und Abstimmungen nötig waren, sei dieses Dokument erarbeitet worden, und obwohl der Bundesrat die Kantone laufend über die sich verschlechternde Situation informiert habe – so seine Haltung –, hätten die Kantone, die noch im Frühjahr vehement einen umgehenden Ausstieg aus der ausserordentlichen Lage verlangt hätten, derart gezögert zu handeln, dass der Bundesrat im November und Dezember 2020 erneut schärfere Massnahmen ergreifen musste. Die Episode zeigt eindrücklich, wie eng verflochten unterschiedliche «Standpunkte» und «Perspektiven» sind. Vgl. Ziffer 3: Mögliche Handlungsfelder.
  • (14): Der Beitrag des Bundes an die kantonalen Härtefallmassnahmen betrug in den Jahren 2020 und 2021 rund 4.2 Milliarden Franken. Für Covid-19-Solidarbürgschaften für Unternehmen wurden Verpflichtungen im Umfang von 16.9 Milliarden Franken eingegangen.
  • (15): Single Point of Contact.
  • (16): Heutiger Einwohnerratssaal von Herisau.
  • (17): Johann Ulrich Schiess (1813–1883, Heimatort Wald AR), Bundeskanzler von 1848 bis 1881.
  • (18): Oder wie es in Grossbritannien nach der Finanzkrise 2007/8 hiess: «Too big to fail. Too small to matter». 


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