175 Jahre Bundesverfassung

Bern, 16.03.2023 - Rede von Bundespräsident Alain Berset anlässlich der Ausstellungseröffnung «Zum Geburtstag viel Recht. 175 Jahre Bundesverfassung» im Landesmuseum Zürich. Es gilt das gesprochene Wort.

175 Jahre Bundesverfassung. Dieses Jubiläum in unsicherer, ja bedrohlicher Zeit stellt uns vor die Frage: Feiern wir es, indem wir uns auf die Schultern klopfen? Oder indem wir denen auf die Schultern klopfen, auf deren Schultern wir stehen? Das wäre zwar akrobatisch attraktiv – aber dafür politisch etwas billig.

Oder gedenken wir des Aufbruchs von 1848, indem wir selber einen mentalen Aufbruch wagen? Indem wir die Errungenschaften nicht einfach verwalten – sondern diese vielmehr vorwärtsverteidigen in einer Welt, in der die Grundrechte sogar in demokratischen Staaten unter Druck stehen – von den autoritären Staaten ganz zu schweigen, von denen einige inzwischen leider eher totalitären gleichen.

Wenn ein historisches Jubiläum einen Sinn hat, dann ist es dieser: Dass unser Bewusstsein dafür gestärkt wird, dass es auch hätte anders kommen können. Dass das Selbstverständliche nicht selbstverständlich ist. Genau das könnte auch das Leitmotiv unserer Gegenwart sein: Das Selbstverständliche ist nicht mehr selbstverständlich.

Seit einem Jahr herrscht Krieg in Europa. Die internationale Ordnung, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs für eine historisch bemerkenswerte Stabilität gesorgt hat, droht zu erodieren.  Die Zahl der Demokratien, die nach 1989 weltweit gewachsen ist, nimmt seit ein paar Jahren wieder ab. 

Im unheilvollen Jahr 1939, in einer Zeit des auftrumpfenden Gebarens von Nationalsozialismus, als die Demokratie vielen als Auslaufmodell erschien, warnte der amerikanische Philosoph John Dewey davor, Demokratie als etwas «sozusagen Fertiges» zu verstehen: «Lange Zeit taten wir so, als ob unsere Demokratie etwas wäre, das automatisch fortbesteht, als ob es unseren Vorfahren gelungen wäre, eine Maschine zu bauen, die das Problem des Perpetuum mobile in der Politik löst.» Der Vergleich hat seine Grenzen. 1939 ist nicht 2023. Aber von dieser Reflexion dürfen auch wir in der Schweiz uns angesprochen fühlen.

Gewiss: 1848 gelang nach Jahren innenpolitischer Wirren mit der Bundesverfassung eine beeindruckende Leistung. Fünf Tage nach Einberufung der Verfassungskommission brach in Paris die Revolution aus und kurz darauf auch in jenen monarchischen Staaten Europas, die eine liberal verfasste Schweiz unbedingt verhindern wollten. Kurz: die grossen Mächte waren mit sich selbst beschäftigt ein Zeitfenster, dass die Verfassungsmacher beherzt nutzten, um den Bundesstaat zu schaffen – in nur 51 Tagen! Also mit einer Geschwindigkeit, die in Bundesbern seither nie wieder erreicht wurde.

Trotz der Genialität unserer Verfassung muss uns bewusst sein: Was wir dieses Jahr feiern, ist kein Perpetuum mobile – es ist eine beeindruckende Maschine, die jedoch stehenbleibt, falls wir sie nicht immer wieder ankurbeln.

Die gegenwärtige Verunsicherung birgt ein politisches Potenzial, das wir nutzen sollten. Indem wir unsere Überzeugungen hinterfragen, und vor allem, indem wir wieder stärker zwischen Unwesentlichem und Wesentlichen unterscheiden. Das könnte die positive Wirkung der gegenwärtigen Multikrise sein: Zurück zu den Fundamenten, zurück zu dem, was essentiell ist für ein zivilisiertes Zusammenleben.

Ohne Grundrechte keine Freiheit. Ohne Grundrechte kein Leben in Würde. Ohne Grundrechte keinen Schutz vor Diskriminierung. Ohne Grundrechte keine Sicherheit vor einem übergriffigen Staat. Das zeigt uns diese wichtige Ausstellung – und zwar, und das ist besonders verdienstvoll, auf eine konkret erlebbare Art und Weise. Spielerisch – oder genauer: mit spielerischem Ernst.

Der eminente Stellenwert der Grundrechte, den diese Ausstellung eindrücklich vermittelt, schärft unser Bewusstsein dafür, dass die Institutionen nicht unerschütterlich sind. Dass Demokratie und Rechtsstaat davon abhängen, wie wir selber uns verhalten. Jede und jeder von uns. Sie macht uns die Relevanz der Grundrechte für unseren Alltag klar. Und sie schärft unser Sensorium für die Gefahr einer schleichenden Erosion der Grundrechte, indem sie uns – immer aus einer Grundrechts-Perspektive – an die grossen Debatten der Gegenwart heranführt. Hat die Meinungsfreiheit Grenzen? Wieso ist das Recht auf ein faires Verfahren so wichtig?  Und wie lässt sich der Schutz der Privatsphäre im Zeitalter von Google, Facebook und TikTok noch gewährleisten?

Gerade in diesen unsicheren Zeiten stärken wir unser Fundament als Gesellschaft, indem wir dessen Fragilität erkennen. Das ist anspruchsvoll. Einfacher wäre es, selbstzufrieden zurückzulehnen. Aber genau das ist eine Gefahr. Denn es ist nur ein schmaler Grat, der die Selbstzufriedenheit von der Selbstgerechtigkeit trennt.

1848 war, was die Grundrechte anbelangt, ein Aufbruch. Aber es war ein Aufbruch mit schweren Konstruktionsfehlern. 1848 war der Beginn einer Männerdemokratie. Genauer: Einer Demokratie der Schweizer Männer christlicher Konfession. Jüdinnen und Juden hatten bis 1866 keine Niederlassungsfreiheit. In gewissen Kantonen waren Dienstboten, Armengenössige und strafrechtlich Verurteilte vom Stimm- und Wahlrecht ausgeschlossen. Und Frauen hatten bekanntlich bis 1971 keine politischen Rechte.

Die Schweizer Geschichte ist eine Geschichte fortschreitenden Inklusion immer weiterer Bevölkerungskreise in unsere demokratische Kultur. Die Frage, wer politischen Rechte haben soll und wer nicht – sie bleibt bis heute hoch relevant. Nicht zuletzt im Hinblick auf die Partizipation der ausländischen Wohnbevölkerung.

Feiern wir 1848 deshalb als Anfang eines Prozesses. Eines Prozesses mit offenem Ausgang. Feiern wir in diesem Jubiläumsjahr unsere Institutionen. Aber noch mehr den Geist, der sich in diesen Institutionen verfestigt hat. Und denken wir dabei an die Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler in aller Welt, die sich, oft unter Einsatz ihrer Gesundheit und manchmal auch ihres Lebens, dafür einsetzen,  dass die Menschen in ihrem Land ihr Leben nicht in Angst vor Willkür fristen müssen. Sondern in Würde und Sicherheit leben dürfen. Unterstützen wir also alle jene Menschen, die diesen Geist des Mutes und des Aufbruchs in der heutigen Zeit verkörpern, die für ihr Land im Jahre 2023 das anstreben, was die Schweiz seit 1848 für selbstverständlich hält. Begreifen wir deren mutiges Engagement als Weckruf für uns alle, nicht dem zeitgeistigen Pessimismus zu verfallen, der die Demokratie zur Projektionsfläche von allerlei Unzufriedenheit macht. Und vergessen wir nicht, dass es nur eines gibt, was noch gefährlicher ist als die Feinde des demokratischen Rechtsstaats. Nämlich unsere eigene Gleichgültigkeit.


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