World Economic Forum Davos

Bern, 17.01.2023 - Eröffnungsrede von Bundespräsident Alain Berset am World Economic Forum Davos – Es gilt das gesprochene Wort.

Die Nachkriegsordnung durchlebt momentan ihre grösste Krise. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine ist eine brutale Attacke auf ein friedliches Land. Aber ebenso sehr ist er eine brutale Attacke auf das Völkerrecht und den Multilateralismus.

Der Krieg verursacht grosses Leid. Und er entscheidet massgeblich über die globale Entwicklung der Demokratie. Deshalb ist die grosse Solidarität der demokratischen Länder mit der Ukraine entscheidend – Solidarität mit den Menschen im Land, aber auch mit jenen, die geflüchtet sind.

Die Aggression geht ausgerechnet von einem Mitglied des UNO-Sicherheitsrates aus, der, ich zitiere die UN-Charta: «Die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit trägt.»

Trotzdem – nein, gerade deshalb! – wird sich die Schweiz, die dieses Jahr zum ersten Mal im UNO-Sicherheitsrat Einsitz nimmt, dafür engagieren, das Völkerrecht und den Multilateralismus wieder zu stärken. Dies auch als Sitz einer der wichtigsten multilateralen Plattformen im internationalen Genf.

Die Welt braucht robuste multilaterale Plattformen. Denn die grössten Herausforderungen der Gegenwart – Klimawandel, Pandemie, Krieg, Migration, Proliferation – sind grenzüberschreitend.

Auch das WEF ist eine wichtige Plattform des globalen Dialogs. Ein Ort des Optimismus, des can-do-spirits. Auch und gerade in Zeiten der Krisen.

Als ich 2012 zum ersten Mal am WEF teilnahm, lautete das Motto: «The Great Transformation: Shaping New Models». Es war die Aufforderung, optimistisch in die Zukunft zu blicken – und dies im Vertrauen auf, ich zitiere: «the strength of our shared values and vision.»

WEF-Gründer Klaus Schwab mahnte allerdings schon damals: «Inclusion is critical at a time when the number one risk to the world is rising inequality.» Diese Diagnose hat sich als ebenso treffend wie weitblickend erwiesen.  

Denn seither hat die Ungleichheit weltweit weiter zugenommen: Der World Inequality Report 2022, der die globale «wealth, income, gender und ecological inequality» misst, kommt zum Schluss, dass die Ungleichheit heute so gross wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Und sämtliche Befürchtungen, die hier am WEF 2012 geäussert wurden, haben sich bewahrheitet. Die Ungleichheit hinterlässt einen gewaltigen politischen und gesellschaftlichen Flurschaden. Was wir Populismus nennen, ist ganz wesentlich eine Reaktion auf die wachsende Ungleichheit.

Wir alle wissen es: Extreme Ungleichheit unterminiert den Zusammenhalt der Gesellschaft. Sie kreiert Ressentiment und lässt uns nach Sündenböcken suchen. Und sie ist politisch toxisch – sie frisst sich in unser Demokratie-Vertrauen.

Die Zahl der Demokratien ist denn auch weltweit stark geschrumpft. Gemäss Freedom House lebten vor 10 Jahren noch rund 50% aller Menschen in Demokratien – heute sind es nur noch 20%.

Wir befinden uns an einem Kipppunkt: Die demokratischen Institutionen werden geschwächt. Die Rechtsstaatlichkeit ist mancherorts gefährdet – sogar in demokratisch verfassten Ländern. Und die «rule of law» droht auch im internationalen System zu erodieren.

Ein Weiter-so ist keine Option mehr: Wir müssen die Fundamente, auf denen ein zivilisiertes Zusammenleben erst möglich wird, mit vollem Engagement verteidigen

Lange haben wir – auch hier am WEF – vor allem über Effizienz und Wohlstand nachgedacht. Und zu wenig über gesellschaftliche Fairness.

Was innenpolitisch für die reichen Länder gilt, gilt auch im Verhältnis unter den Staaten. Auch hier wächst die Ungleichheit rasant – und die ohnehin schon fragilen Staaten werden weiter geschwächt. Erst durch den Klimawandel und die Pandemie, dann durch den Ukraine-Krieg. Rund 350 Millionen Menschen in 82 Ländern sind gemäss dem Welternährungsprogramm der UNO derzeit akut von Hunger bedroht. Das sind über 200 Millionen mehr als vor der Pandemie und dem Ukraine-Krieg.

In weiten Teilen Afrikas sind die Auswirkungen besonders drastisch: So waren Russland und die Ukraine zusammen vor dem Krieg für 90 Prozent der Getreide-Versorgung in Eritrea und Somalia verantwortlich. Auch die Preisexplosion bei Dünger und Erdöl schwächt die ärmsten Länder des Kontinents weit überproportional.

Auch die Covid-19-Pandemie hat die fragilen Staaten besonders hart getroffen. Die Ungleichheit nahm drastisch zu. Und besonders bitter: Vor 2020 gehörten afrikanische Länder zu den am schnellsten wachsenden in der Welt!

Viele Länder Afrikas werden – wie weite Teile der Welt – durch diesen schrecklichen Krieg geschwächt, in seinen Ambitionen gebremst. Aber das schmälert nicht die Bedeutung dieser Länder.

Das bedingt jedoch ein Umdenken. Es braucht eine gelebte globalen Partnerschaft. Eine Partnerschaft, die das enorme Potenzial der Länder in Afrika zum Entfalten bringt und die Menschenrechte sowie die Demokratie stärkt. Eine Partnerschaft die sowohl die humanitären Bedürfnisse adressiert als auch die wirtschaftlichen Opportunitäten und Innovationen unterstützt.

Ungleichheiten werden nicht durch Almosen aufgehoben. Nehmen wir das Beispiel der Covid-19-Impfstoffe.

Man versprach, fragilen Ländern zu helfen – auch die Schweiz hat COVAX, eine Initiative der Weltgesundheitsorganisation, die einen weltweit gerechten Zugang zu Impfstoffen anstrebte, finanziell und politisch unterstützt. Bei der Verteilung von Impfstoffen war von dieser partnerschaftlichen Haltung wenig zu sehen.

Im Zuge von Pandemie und Ukraine-Krieg haben wir festgestellt: Die Gefahr der Fragilität ist keine Einbahnstrasse mehr. Die Probleme fragiler Staaten bleiben nie auf das eigene Land beschränkt. Sie werden stets exportiert, In die Nachbarländer, aber auch in weit entfernte Regionen – in Form von Migration, Korruption, Terrorismus.

Wir müssen alles tun, um fragile Staaten zu unterstützen – sonst werden aus fragilen Staaten «failed states». Deshalb wird sich die Schweiz systematisch für die Schwächsten engagieren. Im Besonderen für den Schutz der Zivilbevölkerung und für Ernährungssicherheit. Fragilität bedroht uns alle. Das gilt innenpolitisch. Und es gilt international.

Eigeninteresse und Engagement für Schwächere. Lange haben wir das für zwei unterschiedliche Dinge gehalten. Jetzt wissen wir: Es ist dasselbe.


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