"Justizreform als Chance für die Gerichtsbarkeit"

Bern, 01.10.1999 - Es gilt das gesprochene Wort

1. Einleitung

Für die Einladung zu dieser Jubiläumsfeier danke ich Ihnen herzlich. Es freut mich sehr, hier in Luzern eine Grussbotschaft an Sie zu richten. Die Gerichtsluft ist mir nicht fremd, und ich freue mich, sie heute in besonderer Form wieder einmal schnuppern zu können.

Eine grosse Zürcher Tageszeitung kommentierte mein Fernbleiben vom Schweizerischen Juristentag letzte Woche mit dem Hinweis, ich würde ein "zeitgeistigeres Besuchsprogramm" pflegen. Falls dies zutrifft - und wer will daran zweifeln - dann feiern wir heute ein zeitgeistiges Jubiläum.

2. Würdigung der Arbeit des EVG

Grund zum Feiern und Gratulieren haben wir tatsächlich: Seit dreissig Jahren besteht das Eidgenössische Versicherungsgericht in Luzern als organisatorisch selbständige Abteilung des Bundesgerichts. In diesem Zeitraum hat sich das Gericht zu einer Institution etabliert, der Respekt und hohes Ansehen zukommen. Ihr Gericht darf stolz sein auf die grosse Arbeit, die es in den vergangenen dreissig Jahren geleistet hat. Im Namen des Bundesrates spreche ich seinen Mitgliedern und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern meine Anerkennung aus.

Die Anstrengung, die dem Eidgenössischen Versicherungsgericht abverlangt wurde, ist gross: Seit dem Jahre 1980, als die Anzahl der Mitglieder zum letzten Mal von sieben auf neun erhöht wurde, ist die Zahl der jährlichen Neueingänge sehr stark gestiegen. Das Gericht hat heute also mit dem gleichen Mitgliederbestand eine ungleich höhere Geschäftslast zu bewältigen.

Aber nicht allein in quantitativer Hinsicht ist die Arbeit beachtlich. Das Eidgenössische Versicherungsgericht hat in zahlreichen Präjudizien wichtige Rechtsfragen einer überzeugenden Klärung zugeführt. Es hat damit für die notwendige Verfeinerung und Fortbildung des gesetzten Rechts gesorgt. Der Wert dieser Rechtsprechung erschöpft sich nicht im kostbaren Gut der Einzellfallgerechtigkeit. Darüber hinaus gewährleistet sie Rechtssicherheit und einheitliche Rechtsanwendung auf dem Gebiet der Sozialversicherungen, das für die Bürgerinnen und Bürger sehr bedeutsam ist.

3. Überlastung des EVG und ihre Gefahren

Die optimale Erfüllung dieser wichtigen Aufgabe wird aber gefährdet, wenn man sie einer überlasteten Justiz aufbürdet. Genau diese Gefahr laufen wir heute. Denn unsere obersten Gerichte sind an den Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit angelangt. Das gilt besonders für das Eidgenössische Versicherungsgericht, denn der konjunkturelle Einbruch der Neunzigerjahre schlug sich in einer markanten Zunahme der Beschwerden im Bereich der Sozialversicherungen nieder.

Ich muss die Überlastungsproblematik in diesem Kreise nicht lange ausführen. Die Qualität der Rechtsprechung wird in Frage gestellt, wenn die Gerichte von Urteil zu Urteil hasten müssen. Oberste Leitlinie darf nicht das Erledigungsprinzip sein. Das gilt in besonderem Mass für die höchstrichterliche Rechtsprechung. Wenn kaum Zeit zur Reflexion bleibt, leidet vor allem die Rechtsfortentwicklung. Gefährdet ist auch die Rechtsschutzgewährung innert angemessener Frist. Ein überlanges Warten auf Urteile dürfen wir den Recht suchenden Bürgerinnen und Bürgern nicht zumuten.

Die ständige Überlastung dürfen wir aber auch den Menschen nicht zumuten, die am Gericht tätig sind. Gerade sie sind der beste Garant für eine qualitativ hochstehende Rechtsprechung. Deshalb müssen wir gute Arbeitsbedingungen schaffen. Denn wir wollen, dass sich auch in Zukunft herausragende Persönlichkeiten für das anspruchsvolle Richteramt zur Verfügung stellen.

4. Justizreform als Chance

Mit Blick auf diese und andere Probleme der Rechtspflege stellt die gegenwärtige Arbeit an der Justizreform eine Chance dar. Für die Bürgerinnen und Bürger bietet sie einen verbesserten Rechtsschutz. Für die obersten Gerichte ermöglicht sie einige Entlastungsmassnahmen. Die Stellung des Bundesgerichts wird durch die Reform gestärkt. Die Gerichte werden dadurch hoffentlich auch von der Kleinarbeit des politischen Lobbyings entlastet, mit der sie heute die politischen Behörden auf ihre Probleme aufmerksam machen müssen. Auf staatspolitischer Ebene bietet die Justizreform schliesslich die Chance, dass sich die Bürgerinnen und Bürger wieder einmal grundsätzlich mit den Aufgaben der Justiz auseinandersetzen. Die Justiz ist für zu viele eine fremde Welt.

Ich nenne als erstes die Justizreform auf Verfassungsebene. Sie wird von den Eidgenössischen Räten hoffentlich noch in der laufenden Session definitiv verabschiedet. Der umstrittenste Punkt dieser Reform ist zweifellos die Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber Bundesgesetzen. Sie ist ein wichtiges rechtspolitisches Anliegen. Die Auseinandersetzung dazu überdeckt aber in der Öffentlichkeit leider oft, dass der Bundesrat mit der Justizreform auch wichtige Entlastungsmassnahmen vorgeschlagen hat, nämlich:

  • den Abbau der Direktprozesse,
  • die durchgehende Vorschaltung von richterlichen Vorinstanzen
  • und die Einführung von Zugangsbeschränkungen.

Die beiden erst genannten Massnahmen sind im Parlament auf breite Zustimmung gestossen. Von ihnen wird vor allem das Bundesgericht in Lausanne profitieren. Griffige Zugangsbeschränkungen sind im Nationalrat hingegen auf unüberwindbaren Widerstand gestossen. Immerhin birgt die neue Verfassungsbestimmung über den Zugang doch ein gewisses Entlastungspotential, das der Gesetzgeber ausnutzen kann und soll.

So wird ihm die Möglichkeit eröffnet, Streitwertgrenzen ausserhalb des Zivilrechts einzuführen, zum Beispiel im Sozialversicherungsrecht. Ob die Einführung von Streitwertgrenzen in diesem Bereich opportun ist, wird sorgfältig zu prüfen sein.

5. Vorschläge betreffend das EVG im Entwurf für ein Bundesgerichtsgesetz

Die Justizreform bildet die Grundlage für den Entwurf des Bundesgerichtsgesetzes, den der Bundesrat Ende 1997 in die Vernehmlassung gegeben hat. Darin werden weitere Verbesserungen vorgeschlagen. Ich greife die Vorschläge heraus, die speziell das Eidgenössische Versicherungsgericht betreffen.

Abschaffung der Sondervorschriften von Artikel 132 und 134 OG
Nach dem geltenden Bundesrechtspflegegesetz sind Streitigkeiten über Sozialversicherungsleistungen grundsätzlich kostenlos. Zudem besitzt das Eidgenössische Versicherungsgericht volle Überprüfungsbefugnis. Es muss also eine Rechts-, Sachverhalts- und Angemessenheitskontrolle vornehmen. Diese beiden Sondervorschriften sollen abgeschafft werden.

Vor allem die Beschränkung der Kognition auf eine blosse Rechtskontrolle wird das Gericht spürbar entlasten. Sie ist auch von der Sache her gerechtfertigt. Dem Rechtsschutz ist Genüge getan, wenn die richterlichen Vorinstanzen den Sachverhalt überprüfen. Eine nochmalige Überprüfung durch das Eidgenössische Versicherungsgericht ist entbehrlich. Das Gleiche gilt für die Kontrolle der Angemessenheit.

Die Einführung der Kostenpflicht auch für Streitigkeiten über Sozialversicherungsleistungen wird einen gewissen Abhalteeffekt erzielen, vor allem für wenig aussichtsreiche Beschwerden.

Beide Entlastungsmassnahmen sind in der Vernehmlassung auf Opposition gestossen. Hier braucht es noch Überzeugungsarbeit.

Ausblick auf die Teilrevision des OG
In diesem Zusammenhang möchte ich einen kurzen Ausblick auf die aktuelle Teilrevision des Bundesrechtspflegegesetzes einschieben. Wie Sie vielleicht wissen, haben die Geschäftsprüfungskommissionen der Eidgenössischen Räte vor kurzem zwei gleichlautende Parlamentarische Initiativen für eine Teilrevision des Bundesrechtspflegegesetzes (OG) verabschiedet. Darin sind einige Sofortmassnahmen zur Entlastung unserer obersten Gerichte enthalten.

Unter anderem wird der erwähnte Vorschlag aufgenommen, die Kognition auch in Streitigkeiten über Versicherungsleistungen auf eine blosse Rechtskontrolle zu beschränken.

Der Bundesrat wird zu diesen Sofortmassnahmen demnächst Stellung nehmen. Da in Lausanne wie in Luzern eine schnelle Entlastung not tut, wird er die Vorschläge sicher wohlwollend prüfen. Das Gleiche gilt für die vorgeschlagene Erhöhung der gesetzlichen Rahmenzahl auf je neun bis elf Mitglieder und nebenamtliche Richter und Richterinnen am Eidgenössischen Versicherungsgericht.

Ich möchte indes betonen: Diese vorgezogene Teilrevision macht die Totalrevision des Bundesrechtspflegegesetzes, also das neue Bundesgerichtsgesetz, keineswegs überflüssig. Sie nimmt lediglich gewisse punktuelle Sofortmassnahmen vorweg.

Integration des EVG ins Bundesgericht
Der Entwurf für das neue Bundesgerichtsgesetz enthält auch einen Vorschlag, der den anwesenden Luzerner Behörden sicher unter den Nägeln brennt: die Integration des Eidgenössischen Versicherungsgerichts in das Bundesgericht.

Ich weiss, dass das Eidgenössische Versicherungsgericht in diesem Punkt geteilter Auffassung ist, und namentlich die Innerschweizer Kantone ihren Widerstand gegen einen solchen Schritt angemeldet haben. Die Frage wird sicherlich weiter zu überprüfen sein. Impulse nehme ich gerne entgegen.

Nicht gerechtfertigt erscheint mir, die Integration des Eidgenössischen Versicherungsgerichts in das Bundesgericht zum Vornherein von den Traktanden zu streichen. Denn auch dieser Schritt könnte eine Chance für die Rechtsprechung in Sozialversicherungssachen sein.

Zunächst gibt es auch hier ein Entlastungspotential:

  • Die selbständige Organisation der Sozialversicherungsabteilung mit eigener Leitungsstruktur bringt administrativen Aufwand mit sich. Innerhalb der Organisation des Bundesgerichts würde ein Teil dieser Verwaltungsaufgaben wegfallen.
  • Im Weiteren kann die gegenseitige Aushilfe unter den Abteilungen bei unterschiedlicher Geschäftslast auch zugunsten der Sozialversicherungsabteilung erfolgen.

Zu diesen Entlastungseffekten kommen weitere Vorteile hinzu:

  • So wird die Koordination der Rechtsprechung in gemeinsamen Fragen des Verfahrens- und des Verwaltungsrechts erleichtert.
  • Zudem entfallen Probleme der Zuständigkeitsabgrenzung.
  • Sodann haben die Mitglieder der Sozialversicherungsabteilung neu die Möglichkeit, ohne Neuwahl in eine andere Abteilung zu wechseln.
  • Schliesslich darf man sich von der Vereinigung der beiden Gerichte Kosteneinsparungen erhoffen, namentlich im Bereich der Infrastruktur.

Der Nachteil dieser Lösung liegt natürlich auf der Hand: Luzern würde das Eidgenössische Versicherungsgericht verlieren. Die Opponenten beklagen vor allem den Verlust von qualifizierten Arbeitsplätzen. Dieser Verlust könnte aber wettgemacht werden, indem das neue Bundesverwaltungsgericht wie vorgesehen hier in Luzern situiert wird.

Ich möchte indessen betonen: All diese Fragen sind noch offen. Der Bundesrat wird sie im Lichte des Vernehmlassungsergebnisses weiter prüfen.

6. Schluss

Meine Damen und Herren

Wenn wir das übergeordnete Ziel der Justizreform in einem Wort zusammenfassen, dann lautet es: Qualitätssicherung der Rechtsprechung. In einer Zeit, in der auch die Justiz immer mehr ins Rampenlicht der Medien gezogen wird, ist die Qualitätssicherung ganz zentral. Nur wenn uns dies gelingt, kann die Justiz das Vertrauen bewahren, das für ihre Arbeit unentbehrlich ist. Die unterlegene Partei pflegt natürlich auch über ein qualitativ gutes Urteil zu schimpfen. Überzeugende Urteile erhöhen aber die gesellschaftliche Akzeptanz der Justiz. Und sie helfen mit, Schlagworte wie jenes vom "Richterstaat" zu entkräften.

Die Justizreform ist daher nicht nur eine Chance für die Gerichtsbarkeit, sondern auch eine Notwendigkeit. Dass sie gelingen wird, dafür tragen die Eidgenössischen Räte, der Bundesrat und letztlich die Stimmberechtigten eine gemeinsame Verantwortung.

Die politischen Behörden sind aber auch auf das Sachwissen und die Unterstützung der Gerichte angewiesen. In diesem Sinne bietet das heutige Jubiläum die beste Gelegenheit, die Zusammenarbeit zwischen den Gewalten zu bekräftigen.


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