Von Charon zum Babelfisch. Frust und Freude jener, die durch die Wogen der Schweizer Vielfalt navigieren.

Bern, 10.11.2022 - Rede von Bundespräsident Ignazio Cassis und Vorsteher des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten EDA anlässlich des Tages der Sprachen für die Übersetzer/innen der Bundesverwaltung - Es gilt das gesprochene Wort

Geschätzte Übersetzerinnen und Übersetzer

Sehr geehrte Damen und Herren

Herzlichen Dank, dass Sie mich zu Ihrem Treffen eingeladen haben. Ich denke, dass sich in diesem Raum viele Menschen befinden, die die gleiche Erfahrung machen wie ich. Sie erleben jeden Tag die Herausforderung und die Schönheit der Vielfalt.

Die Vielfalt der Sprachen, Kulturen und Mentalitäten, die das Wesen unseres Landes ausmacht, seine Essenz.

Die Schweiz liegt im Schnittpunkt verschiedener Welten: Nord- und Südeuropa, lateinische und germanische Welt, ein eher zentralistisches und ein eher föderalistisches Staatsverständnis, Gletscher und Palmen, Bauernhöfe und Hochschulen, Jet d’eau und Schellenursli, unberührte Landschaften und Dichtestress sind auf kleinem Raum vereint.

Ihre Aufgabe, meine Damen und Herren, ist es, die Fährleute zwischen diesen Welten zu sein. Sie suchen im Norden nach den richtigen Worten, um den Süden zu erreichen. Sie verbinden den Westen mit dem Osten. Oder umgekehrt.

Sie haben meinen vollen Respekt, denn Sie haben eine nahezu unmögliche Aufgabe.

Sie engagieren sich mit Herzblut und Entschlossenheit, Text für Text: Sie drehen und wenden Wörter und das Universum, das sie in sich tragen, Sie stellen Sätze um und konstruieren sie neu, wechseln von einer Wahrnehmung zur anderen, von einem Humor zum anderen, von einer Seite zur anderen. Im Grunde ändert sich alles... aber die Botschaft muss die gleiche bleiben!

Gestatten Sie, dass ich Sie mit Charon vergleiche. Charon, der Fährmann der Unterwelt, dessen Aufgabe es war, vom Leben in den Tod, vom Licht ins Dunkel, vom Tag in die Nacht überzusetzen. Charon war der Sohn der Göttin der Nacht und des Gottes der Finsternis. Der Name Charon bedeutet jedoch intensive Helligkeit oder auch: derjenige mit dem feurigen Blick. Charon, dessen Charakter zwar düster ist, weil er eine unendliche Aufgabe erfüllt, eine schwere Verantwortung auf seinen Schultern trägt und schliesslich über grosse Macht verfügt.

Sie Übersetzerinnen und Übersetzer bringen uns jeden Tag von einer Welt in die andere, Sie navigieren zwischen Welten, die manchmal so unterschiedlich sind wie Tag und Nacht. Und auch wenn die Sprache der Bundesverwaltung voller Hindernisse ist, fast so wie der Fluss der Unterwelt, nehmen Sie Ihre Aufgabe mit Kreativität und ohne Trübsinn wahr!

Über welche Verantwortung und Macht Sie Übersetzerinnen und Übersetzer verfügen, möchte ich anhand eines Beispiels aus meiner Zeit im Nationalrat erläutern. Wie Sie wissen, sind die verschiedenen parlamentarischen Kommissionen mehr oder weniger begehrt, je nach persönlichen Interessen, behandelten Dossiers und verfügbaren finanziellen Mitteln. Nun, es gibt eine Kommission, die fast nie erwähnt wird, weil sie als zweitrangig gilt und kein Budget verwaltet. Es ist eine typisch schweizerische Kommission, deren Macht oft unterschätzt wird. Ich meine die Redaktionskommission, deren Aufgabe es ist, die Gesetzestexte in den verschiedenen Sprachen im Hinblick auf die Schlussabstimmung zu prüfen. Als Italienischsprachiger musste ich mir mit meinen Kolleginnen und Kollegen oft Gedanken darüber machen, wie man in einem Gesetz eine Absicht, die ursprünglich meist auf Deutsch, manchmal auch auf Französisch formuliert wurde, am besten übersetzt. Ein falsches Wort hätte für viele Menschen sehr konkrete Folgen haben können. Hier zeigt sich die Macht und die Verantwortung derjenigen, die mit Sprachen arbeiten. Hier zeigt sich auch, dass in den Übersetzungen der Teufel stecken kann, womit wir wieder beim Mythos der Unterwelt wären!

Eigentlich hätte ich an dieser Stelle gerne die Hölle hinter mir gelassen und über die Welt, in der wir leben, gesprochen. Doch leider ist die Welt gar nicht weit von uns tatsächlich zur Hölle geworden. Seit Monaten tobt ein Krieg auf europäischem Boden. Ein Krieg im Namen einer Identität gegen eine andere Identität, einer Sprache gegen eine andere Sprache.

Sprachen können in der Tat zu Waffen werden.

In der Bibel wird die Geschichte des Turms zu Babel beschrieben, wo alle einander verstanden und Frieden herrschte. Sobald der Turm zusammengefallen war, herrschte Krieg. Wäre es also möglich, dass uns die künstliche Intelligenz einander wieder näherbringt? Werden wir uns in Zukunft auf Anhieb verstehen und uns so gegenseitig weniger schaden?

Sie kennen wahrscheinlich Babel Fish, den Babelfisch. Dieses kleine gelbe Tier, das sich der britische Schriftsteller Douglas Adams ausdachte, hat spektakuläre Kräfte: Mit dem Babelfisch im Ohr versteht man sofort jede Sprache des Universums. Ein Mittel gegen das postbabylonische Chaos? Alle mögen sich und sind sich einig, dank eines automatischen Übersetzungssystems? Leider nein... Douglas Adams schreibt, dass «der arme Babelfisch zwar die Sprachverwirrung zwischen den verschiedenen Rassen und Zivilisationen aufhob, aber mehr und blutigere Kriege als sonst jemand in der ganzen Geschichte der Schöpfung verursachte».

Sehr geehrte Damen und Herren

Künstliche Intelligenz kann zwar eine wertvolle Unterstützung bei der Kommunikation zwischen Menschen und bei der Ausübung ihrer Arbeit sein, aber sie kann den Menschen niemals ersetzen.

Eine Übersetzung, selbst wenn sie perfekt ist, ist nie ganz vollständig und wahrscheinlich nie ganz objektiv. Hinter den Wörtern bleiben Nuancen, Zwischenräume, in denen sich Stimmungen, Mentalitäten, kulturelle Bezüge verbergen. Denn Sprache ist viel mehr als ein Aneinanderreihen von Wörtern. Eine Sprache umfasst ein ganzes Universum!

Deshalb halte ich Ihre Aufgabe für ebenso unmöglich wie faszinierend! Sie sind ein bisschen wie Charon, denn mit Ihrem Ruder umschiffen Sie die Strudel der Unterwelt, die unter einer Sprache lauert. Und Sie sind ein wenig wie dieser kleine, gelbe Babelfisch. Sie bringen verschiedene Welten zusammen, ohne jedoch deren Vielfalt auszulöschen, jene Vielfalt, die uns zum Dialog und zur Suche nach Kompromissen zwingt, eine Vielfalt, die Quelle grossen Reichtums ist.

Vielfalt ist immer eine Herausforderung. Sie erfordert Geduld und kontinuierliches Engagement. Sie bedeutet, dass man es versteht, sich in die Lage anderer hineinzuversetzen. Sie bedeutet, etwas aufzugeben, um dafür etwas anderes zu bekommen. Jede und jeder von uns macht diese Erfahrung, insbesondere diejenigen, die einer Minderheit angehören. Und vor allem alle, die mit Sprachen arbeiten.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und Ihre Arbeit und wünsche Ihnen einen Tag voller neuer Impulse!


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