"Agriviva: Start in eine neue Zukunft"

Bern, 23.03.2010 - Der Landdienst hat eine lange Geschichte, die nun unter dem Namen Agriviva weitergeht. Agriviva ermöglicht es Jugendlichen, Einblick in die Welt der Landwirtschaft zu erhalten. Umgekehrt kommen Bauernfamilien so in Kontakt mit der Welt der Jugendlichen, die nicht auf dem Land aufwachsen. Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf. Es gilt das gesprochene Wort.

Sehr geehrte Damen und Herren
Liebe Anwesende

Heute startet der ehemalige Landdienst unter dem Namen Agriviva in eine neue Zukunft! Ich freue mich, zusammen mit Ihnen dieses Ereignis zu feiern und danke Ihnen für die Einladung.

Ich bin sehr gerne für diesen Anlass nach Gasel gekommen. Denn ich habe als Gymnasiastin selbst während mehrerer Wochen im Sommer Landdienst geleistet. Und auch wenn das schon eine Weile her ist, kann ich mich noch gut daran erinnern. Anders als es Politikerinnen und Politikern manchmal nachgesagt wird, sollte ich also auch etwas von dem verstehen, was ich heute sage.

Der Landdienst kann auf eine lange Geschichte zurückblicken. Er wurde 1946 aus der Taufe gehoben, nota bene im Bundeshaus in Bern. Natürlich hat sich die Institution in den vergangenen 64 Jahren weiter entwickelt und auch Veränderung erfahren. Die aktuellste Veränderung ist der Grund unseres Zusammenkommens: der Landdienst erhält einen neuen Namen und ein neues Erscheinungsbild.

Die Jüngeren unter Ihnen würden möglicherweise sagen: die Organisation erhält ein neues Styling. Frisur, Makeup und Kleider sollen ansprechend und zeitgemäss sein; das Gesamtpaket soll möglichst viele Leute ansprechen. Auch wenn ich nicht mehr ganz zur Zielgruppe gehöre, möchte ich doch sagen, dass mir der neue Stil sehr gut gefällt!

"Kleider machen Leute" sagt das bekannte Sprichwort. Das mag stimmen. Doch wenn die Persönlichkeit fehlt, das Innenleben nicht viel zu bieten hat, wird man vergebens nach Ausstrahlung und Charisma suchen.

Die Institution, um die es heute geht, hat Persönlichkeit; und diese Persönlichkeit verändert sich mit dem Namenswechsel nicht: das Innenleben, die Idee bleibt die gleiche: Jugendliche kommen zur Mitarbeit aufs Land und damit auch die Stadt auf den Bauernhof - eine Erfahrung, von der beide Seiten nur profitieren können!

Meine Vorrednerinnen und Vorredner haben bereits von den vielfältigen Erlebnissen erzählt, die mit einem Einsatz auf dem Bauernhof verbunden sind. Ich möchte Ihnen nun gerne noch sagen, welcher Aspekt für mich von grosser Bedeutung ist:  Es ist die Freiwilligkeit.

Die Tatsache, freiwillig etwas zu tun, sich einzusetzen für etwas, das keinen unmittelbaren, keinen bzw. nur einen kleinen materiellen Gegenwert bietet. Das ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Gerade in der heutigen Zeit, in welcher der Anreiz für Leistungen vor allem in Form von Geld besteht. Wohin das in extremis führen kann, haben wir jüngst ja bei den Banken erlebt. Umso wichtiger ist es, gerade den Jugendlichen auch andere Werte ausser Geld und Reichtum zu vermitteln. Denn oft lässt sich der Lohn für eine Tat nicht in Zahlen messen!

Agriviva bietet Jugendlichen Einblicke in eine „neue Welt", in die Welt der Landwirtschaft.

Ich bin mir nicht sicher, ob es zutrifft, dass einige Kinder auf die Frage, woher denn eigentlich die Milch komme, in der Tat antworten: aus der Migros... Aber ich bin mir sicher, dass alle davon profitieren können, hautnah bei der Produktion von Lebensmitteln - also den Mitteln, die wir zum Leben brauchen - dabei zu sein.

Beim nächsten Einkauf im Coop - um auch den anderen Schweizer Grossverteiler zu nennen - wird ein „Landdienst-Absolvent" gewisse Produkte vielleicht mit anderen Augen anschauen.
Denn niemand wird so schnell vergessen, wie es war beim „härdöpfele"; manche werden zurückdenken an ihren Versuch, eine Kuh zu melken. Und einige erinnern sich bestimmt auch noch an den Muskelkater, den sie nach dem langen Stehen auf der Leiter am Kirschbaum oder nach dem Heuen verspürt haben.

Die Arbeit auf dem Bauernhof erlaubt den Jugendlichen einen spannenden Einblick in eine neue, andere Tätigkeit. Ein solcher Einsatz ist aber mehr als "nur" Schnuppern in einem Beruf, es ist auch Schnuppern in einem neuen Alltag, an einer neuen Lebensform, in einer anderen Familie.

Es geht darum, sich in ein unbekanntes Umfeld zu integrieren. Neue Erfahrungen zu sammeln und neue Begegnungen zu erleben.

In Anlehnung an ein Plakat von Agriviva könnte man sagen: Da trifft Chatroom auf Bauernhof, Joystick auf Heugabel und Shopping auf Kinderhüten.

Auch die Bauernfamilien profitieren von den „Neulingen". Und ich spreche hier nicht von zwei zusätzlichen, hilfreichen Händen, sondern davon, dass die jugendlichen Gäste diesen Familien ebenfalls Einblicke in eine „andere Welt" ermöglichen. In die Welt von jungen Menschen, die oft aus einem städtischen Gebiet stammen und deren Alltag unter Umständen völlig anders ausschaut als der eigene.

Ich bin überzeugt, dass auch die Gastfamilien viel Bereicherung erfahren.

Modern ausgedrückt, würde man wohl von einer „Win-Win-Situation" sprechen. Damit beide Seiten zu den Gewinnern gehören, müssen aber gewisse Voraussetzungen erfüllt sein. Solch erfreuliche Begegnungen entstehen nämlich nur, wenn beide Seiten Offenheit und Toleranz zeigen, wenn auf beiden Seiten das Interesse für das Gegenüber da ist und der Wille besteht, aufeinander zuzugehen.
Eigenschaften, die wir alle im täglichen Leben auch aufweisen sollten. Es würde so manches erleichtern!

Agriviva ermöglicht also Begegnungen.

Zum Beispiel die Begegnung zwischen Stadt und Land, die Begegnung zwischen Jung und Alt - oder sagen wir zwischen Jüngeren und Älteren - und die Begegnung zwischen Menschen aus verschiedenen Sprachregionen und damit auch aus unterschiedlichen Kulturen.

Es ist daher durchaus angebracht, Agriviva als Brückenbauer zu bezeichnen. Gebaut werden Brücken zu anderen Menschen, zu anderen Lebensformen, Brücken zwischen der deutschen, französischen, italienischen und vielleicht sogar der rätoromanischen Schweiz - ja auch über die Landesgrenzen hinaus.

Gerade in unserem kleinen, aber sehr vielfältigen Land ist es wichtig, möglichst früh Verständnis für die Mitbürgerinnen und Mitbürger und ihre jeweiligen Anliegen zu entwickeln. Und dieses Verständnis kann am besten durch direkte Begegnung entstehen.

Wenn dabei auch gleich noch die Sprachkenntnisse vertieft oder aufgefrischt werden können, schlägt man sprichwörtlich „zwei Fliegen mit einer Klappe". Denn mag auch die Übersetzung von Milch in lait, latte und latg noch vielen geläufig sein, so sieht es bei Gemüse vielleicht schon anders aus? Aber légumes, verdura und legums steht in der Regel auch nicht auf der Verpackung... Abgesehen davon, Gemüse kauft man sowieso am besten direkt auf dem Bauernhof bzw. beim Produzenten!

Die Erfahrungen, welche die Beteiligten mit Agriviva machen oder machen können, sind sehr vielfältig.

Als ich damals als junges Mädchen bei meiner Gastfamilie ankam, war mir etwas mulmig zumute. Ich war an einem neuen Ort, in einem fremden Haus, bei Menschen, die ich nicht kannte und es erwartete mich eine Arbeit, die ich zuvor nie gemacht hatte. Wie immer bei neuen Herausforderungen waren aber neben dem mulmigen Gefühl auch die Freude und die Neugier auf das was kommt, sehr stark.

Obwohl ich in einer ländlichen Umgebung aufgewachsen bin, und zu Hause durchaus auch mal anpacken musste, war die Schulzeit und noch stärker die Zeit am Gymnasium vor allem geprägt durch sitzende Arbeit, durch Lesen, Schreiben, Lernen... Oft sah man am Abend noch kein unmittelbares Resultat dessen, was man tagsüber geleistet hatte. Ganz anders während meiner Zeit auf dem Bauernhof: hier tat ich etwas, das ein sichtbares Resultat lieferte. War das Obst gepflückt, war der Baum leer und der Korb voll; war der Zaun geflickt, konnten die Tiere wieder auf die Wiese.
Natürlich waren diese Aufgaben nur Teilstücke in einem längeren Prozess. Aber gerade das Gefühl, als Glied in einer funktionierenden Kette eine Aufgabe übernehmen zu können, war besonders prägend und nachhaltig. Ebenso eindrücklich war es zu erleben, wie viel man erreichen kann, wenn man zusammen etwas anpackt.

Ich bin dankbar dafür, dass ich die Möglichkeit hatte, das Leben auf dem Bauernhof wirklich kennen zu lernen. Die Erfahrungen, die ich dabei gemacht habe, sind mir in meinem späteren Leben zugute gekommen. Ich würde mir wünschen und hoffe, dass viele junge Menschen solche Erfahrungen machen dürfen.

Damit dies so ist, wünsche ich Agriviva, der Organisation, die solche Einsätze ermöglicht, einen guten Start in die Zukunft!

Möge sie mit Schwung in die Zukunft starten und möge die Idee, die bereits verwurzelt ist, weiterhin wachsen, gedeihen und Früchte tragen.


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