Asylpolitik: Kopf oder Herz?

Thun, 01.12.2012 - In ihrer Rede anlässlich der Delegiertenversammlung der SP Schweiz setzte sich Bundesrätin Simonetta Sommaruga dafür ein, dass die Sozialdemokratische Partei in der Asylpolitik eine aktivere Rolle spielt. Es gilt das gesprochene Wort.

Dass zwei Nationalräte aufeinander los gehen, ist an sich noch nichts Besonderes. Dass sie es aber mit gezückten Säbeln tun, schon. Genau das taten vor über 150 Jahren der Tessiner Giacomo Luvini und der Zürcher Rudolf Benz. Anlass für den Streit war - die Asylpolitik.

Soviel ich weiss, verlief die handgreifliche Auseinandersetzung glimpflich. Und meines Wissens  ging es beim Streit nicht um die Frage, ob ein Referendum zu unterstützen sei. Und selbstverständlich waren weder Benz noch Luvini Sozialdemokraten.

Die Asylpolitik war aber schon damals ein heikles Terrain. Das ist, wir wissen es, auch heute noch so.

Wir gehen zwar nicht mehr mit Säbeln aufeinander los. Aber die Debatten zählen politisch zu den schärfsten überhaupt. In den Debatten kommt dann oft einiges zusammen. Und da gerät gelegentlich einiges durcheinander.

In der aktuellen Debatte geht es um Beschäftigungsprogramme und um renitentes Verhalten, um Unterbringungsfragen und um Dringlichkeit. Man redet von Blankochecks an den Bundesrat. Es geht um Taktik, um Werte, um das eigene Gewissen.
 

Drei Ziele

Aber worum geht es in der Asyldebatte wirklich?

Es geht um Flüchtlinge. Um Menschen. Vergessen wir das nie.

Es geht um Menschen, die in ihrer Heimat verfolgt wurden. Diese Menschen brauchen unseren Schutz. Es ist unsere Aufgabe, es ist unsere menschliche Pflicht, diesen Männern, Frauen und Kindern ein neues Leben zu ermöglichen.

Ich treffe solche Menschen regelmässig, weil ich wissen will, wie es ihnen geht in unserem Land. Vor kurzem habe ich in der Innerschweiz eine Gruppe von aufgenommenen Flüchtlingen besucht; Menschen die hier sind und hier bleiben. Aber „hier sein" genügt nicht.

Sie sollen sich willkommen fühlen. - Sie bekommen im Projekt, das ich besuchte, eine Chance. Sie bauen sich ein Leben auf. Sie absolvieren eine Kurzausbildung in der Gastronomie, im Pflegebereich oder in einem mechanischen Beruf. Am Ende der Ausbildung haben 70% eine feste Anstellung. 70%. Wer eine Arbeit hat, kann weitergehen im Leben und sich weiterentwickeln.

Dies, liebe Genossinnen und Genossen, ist unsere Kernaufgabe.

  • Deshalb ist das erste meiner 3 Ziele in der Asylpolitik:
    • Wir wollen Flüchtlingen Schutz gewähren.

Wir stehen dafür ein, weil wir die humanitäre Tradition in unserem Land hoch schätzen. Und wir setzen uns dafür ein, dass diese Menschen in unserem Land eine Perspektive haben.

 
Allerdings gibt es politische Kräfte, die selbst diesen Grundsatz in Frage stellen. Und ich meine nicht nur Politiker am rechten Rand, sondern z.B. auch die Anhänger der Ecopop-Initiative, welche die Zuwanderung fix begrenzen wollen. Wäre das Jahressoll erreicht, würde keine einzige asylsuchende Familie mehr Gnade finden vor der Ecopop-Quote.

Mit solchen Radikallösungen kommen wir nicht weiter.

Gerade weil die Asyldebatte derart polarisiert, sehe ich meine Aufgabe darin, Gemeinsamkeiten zu suchen. - Wo können wir hier ansetzen?

Wir erinnern uns: Als ich das EJPD übernahm, dauerten die Verfahren länger denn je - und dies nach 10 Gesetzesrevisionen in den letzten 30 Jahren! Das ist nicht nur extrem ineffizient und kostspielig. Es untergräbt vor allem die Glaubwürdigkeit und Akzeptanz des Asylwesens in der Bevölkerung.

Heute können wir sagen: Es herrscht ein breiter Konsens, dass wir die Verfahren beschleunigen müssen. Es gab dazu schon einstimmige Entscheide im Parlament - etwas, das in der Asylpolitik fast historisch ist.

Aber: Die Beschleunigung darf nicht auf Kosten der Rechtsstaatlichkeit gehen.

Deshalb gehört zum neuen Asylverfahren ein umfassender Rechtsschutz für alle Asylsuchenden.

  • Dies ist auch das zweite Ziel meiner Asylpolitik:
    • Asylverfahren müssen rasch und fair durchgeführt werden.

Beides gleichzeitig ist, wie gesagt, nur möglich, wenn der Rechtsschutz für die Betroffenen ausgebaut wird.

 
Fragen wir uns an dieser Stelle: Was schadet denn unserem Asylsystem, abgesehen von den langen Verfahren?

Zum einen sind es Politiker, die - genau genommen - gar keine Lösungen suchen, weil sie nämlich vor allem eines wollen: Die Stimmung aufheizen gegen Menschen, um damit Wählerstimmen zu machen. - Das ist zynisch und menschenverachtend.

Das wird es immer geben. Aber, liebe Genoss/-innen:

Wir dürfen nicht zulassen, dass solche Politiker in der Asylpolitik fast ungestört den Takt angeben.

Es gibt andere Elemente, die die Glaubwürdigkeit unseres Asylwesens untergraben:

Scheuen wir uns nicht, es selber anzusprechen: Gerade in den letzten eineinhalb Jahren sind zu viele Asylsuchende durch renitentes oder kriminelles Verhalten aufgefallen. Wenn es im Dorfladen plötzlich regelmässig zu Diebstählen kommt, wenn Autos aufgeknackt werden oder gar in Häuser eingebrochen wird: dann bringen einige Wenige die Asylsuchenden generell in Verruf. Und das müssen wir verhindern.

  • Deshalb ist das dritte Ziel meiner Asylpolitik:
    • Wir wollen Missbräuche konsequent bekämpfen, weil Missbräuche zulasten der Flüchtlinge selbst gehen.

 
Ich werde diese drei Ziele verfolgen, unabhängig davon wie es mit der Vorlage über die dringlichen Massnahmen und mit der laufenden Asylgesetzrevision weitergeht.

Ich komme nun also zur dringlichen Vorlage, die an unsere Delegiertenversammlung heute zur Diskussion steht.

 

Beschlossene dringliche Vorlage und laufende Asylgesetzrevision

Die dringliche Vorlage enthält einige Massnahmen, die wir alle unterstützen können:

  • Es wird leichter, Bundesunterkünfte zu eröffnen, d.h. der Bund kann mehr Plätze zur Verfügung stellen - das ist übrigens eine alte Forderung unserer Partei.
  • Ebenfalls positiv ist die Förderung und finanzielle Unterstützung von Beschäftigungsprogrammen.

Die dringliche Vorlage enthält aber auch Elemente, gegen die sich unsere Partei im Parlament erfolglos gewehrt hat:

  • Auch wenn die Schweiz zuletzt als einziges europäisches Land noch Botschaftsgesuche zuliess: Die Abschaffung der Botschaftsgesuche ist aus linker Sicht ein Minus in dieser Vorlage. Wir können - und werden - das aber zumindest teilweiseentschärfen: mit humanitären Visa z.B. oder mit der Aufnahme von Flüchtlings-Kontingenten des UNHCR.
  • Ebenfalls abgelehnt hat die Partei den Ausschluss der Wehrdienstverweigerung als Asylgrund. Ich habe mich dazu im Parlament klar geäussert: Das ist Symbolpolitik. Das mag ärgerlich sein und diese Massnahme nützt nichts -  sie schadet aber auch nichts. Denn das Parlament selber hat im Gesetz festgehalten, dass in jedem Fall die Flüchtlingskonvention einzuhalten ist - und genau das werden wir auch bei den Eritreern weiterhin tun.

In der laufenden Asylgesetzrevision - sie kommt nächste Woche wieder in den Nationalrat - hat unsere Partei einige Verschärfungsvorhaben erfolgreich bekämpft.

  • Ich meine z.B. die Abschaffung der Sozialhilfe für Asylsuchende. Ich habe mich vehement gegen diese unwürdige Kollektivstrafe gewehrt. Wir konnten hier das Schlimmste verhindern, und das ist uns gemeinsam gelungen.
  • Wir haben uns auch gegen geschlossene Unterkünfte gewehrt - eine Weile lang geisterte ja der abscheuliche Begriff Internierungslager herum. Auch das konnten wir verhindern.
  • Ich bin zuversichtlich, dass das so bleibt, auch nach der Beratung im Nationalrat von nächster Woche.

Liebe Genossinnen und Genossen, wir werden aber auch in Zukunft kämpfen müssen. Ob in der laufenden Asylgesetzrevision oder in zukünftigen Projekten:

Wir werden für die Rechte der Verfolgten einstehen, für Menschlichkeit einstehen, für Solidarität und für faire Asylverfahren.

 

Referendum?

In den letzten Wochen hat man damit begonnen, für das Referendum gegen die dringliche Vorlage Unterschriften zu sammeln. Einige Hilfswerke, die sich ausschliesslich für die Interessen der Flüchtlinge einsetzen, halten das Referendum für kontraproduktiv. Sie befürchten, dass die absehbare deutliche Niederlage zu weiteren Verschärfungen führt.

Auch innerhalb unserer Partei ist umstritten, ob wir ein Referendum wollen oder nicht.

  • Es gibt Stimmen, die sagen: „Nein, das lohnt sich nicht. Wir können angesichts weltweit 43 Millionen Flüchtlingen das Asylproblem in der Schweiz ohnehin nicht lösen". Das stimmt zwar - aber das ist kein gutes Argument.
  • Jemand fragte: „Wo bleibt mein Gewissen, wenn ich blosser Taktik zuliebe darauf verzichte? - Ich muss doch kämpfen und im Abstimmungskampf Stellung nehmen können."
  • Andere sagen: „Mein Herz sagt Ja, mein Kopf sagt Nein. Denn mit einem Referendum sorgen wir nur dafür, dass die halbe Schweiz mit Plakaten gegen Flüchtlinge zugeklebt wird."

Liebe Genossinnen und Genossen - ich bin froh, dass sich meine Partei intensiv mit diesen Argumenten auseinandersetzt. Denn es geht hier nicht einfach um die Frage:

Taktik oder Inhalt? Gewissen oder Strategie? Kopf oder Herz?

Wenn es so wäre, dann wäre für mich absolut klar: Natürlich entscheiden wir uns fürs Herz, fürs Gewissen, für unsere Werte.

Aber so einfach ist es nicht, es ist kein Entweder-Oder:

Wenn wir uns fürs Herz entscheiden, am Schluss dann aber die Situation für die Flüchtlinge schlechter ist als vorher - wie geht es dann unserem Gewissen?

 

Liebe Genossinnen und Genossen, es gibt in unserer Partei den festen Willen, das Asyl zu verteidigen und uns für die Flüchtlinge einzusetzen. Das ist eine Energie, die enorm stark ist, und die uns niemand nehmen kann.

Die Frage ist nun: Wie setzen wir diese Energie am besten ein?

Wenn ich ehrlich bin, dann wünsche ich mir vor allem, dass wir uns nicht mit uns selbst beschäftigen - und schon gar nicht uns auseinander dividieren lassen.

Ich wünsche mir, dass wir uns auch an der heutigen Delegiertenversammlung darauf konzentrieren, wie wir unser gemeinsames Ziel am besten erreichen. Und unser gemeinsames Ziel ist: die Stellung der Flüchtlinge zu stärken.

Ich bin mir ganz sicher: Wir haben in der Asyldebatte mehr zu bieten, als Vorschläge, die andere machen, zu bekämpfen!

Schliesslich sind wir es, die wir uns für die Flüchtlinge engagieren in den NGOs und Hilfswerken, in Solidaritätsnetzen und viele von uns auch beruflich.

Es ist an der Zeit, dass wir in der Asylpolitik aus der Defensive herauskommen und eine aktive Rolle einnehmen.

Natürlich gäbe das Referendum unserer Partei die Gewissheit, dass wir für unsere Positionen eine Plattform hätten. - Nur, Genossinnen und Genossen:

Diese Plattformen bekommt unsere Partei - auf jeden Fall.

 

Neustrukturierung Asylwesen

Die Vorbereitungen für die Neustrukturierung des Asylwesens, von der ich gesprochen habe, laufen nämlich auf Hochtouren.

Vor wenigen Tagen hat die Arbeitsgruppe von Bund und Kantonen, die ich Anfang Jahr eingesetzt habe, ihren Bericht verabschiedet. Damit haben wir die Grundlage für die nächsten politischen Schritte:

Gemäss diesem Bericht sollen Asylverfahren in Zukunft viel kürzer dauern. 

  • Entscheidend dabei ist: Die Rechte der Asylsuchenden werden nicht geschmälert, sondern ausgebaut - und zwar mit einem umfassenden Rechtsschutz.
  • Bei einer solchen Neustrukturierung gewinnen alle: die Asylsuchenden, die Flüchtlinge, die anerkannt werden und hier bleiben können, aber auch die Bevölkerung, die wieder Vertrauen gewinnen kann in unsere Asylpolitik.
  • In dieser Neustrukturierung spielen die Hilfswerke eine tragende Rolle - und zwar im Bereich der Rechtsberatung und der Rechtsvertretung.

 

Liebe Genossinnen und Genossen, ihr seht also: In der Asylpolitik ist vieles im Umbruch - oder besser gesagt: im Aufbruch.

Wir haben - unabhängig von der Frage des Referendums - in naher Zukunft grosse Aufgaben, die auf uns zukommen.

Das wird uns viel Kraft kosten, das ist kein Spaziergang - aber, Genossinnen und Genossen, wir haben diese Kraft, wir haben das Feuer, und vor allem: Wir haben gute Argumente.

Wenn wir es schaffen, die Polarisierung in der Asylpolitik zu durchbrechen, dann haben wir nicht nur  für die verfolgten Menschen etwas getan, sondern viel mehr erreicht:

Die Asylpolitik beeinflusst nämlich das allgemeine Klima gegenüber der ausländischen Bevölkerung - und somit die Haltung in unserem Land gegenüber den Migrantinnen und Migranten.

Die Migration wird in den nächsten Jahren ein absolutes Schlüsselthema sein: Denken wir nur an die Abstimmungen über die Ausdehnung des Freizügigkeitsabkommens auf Kroatien, über die Ecopop-Initiative sowie über die Masseneinwanderungsinitiative.

Liebe Genossinnen, liebe Genossen, es wartet viel Arbeit auf uns. Ich freue mich auf diese Arbeit. Ich freue mich, all das mit euch anzupacken.


Adresse für Rückfragen

Kommunikationsdienst EJPD, T +41 58 462 18 18


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