"Der 7. Februar 1971 ist die Geburtsstunde der ganzen Demokratie"

Bern, 02.09.2021 - Offizielle Feier zu 50 Jahren Frauenstimmrecht in Bern; Bundesrätin Karin Keller-Sutter - es gilt das gesprochene Wort

Monsieur le Président de la Confédération
Meine Damen und Herren
Geschätzte Kolleginnen

Hier, am Rednerpult gleich hinter mir, sass vor 50 Jahren der frisch erkorene Nationalratspräsident William Vontobel, ein Zürcher Vertreter des Landesrings der Unabhängigen. Es war der 29. November 1971 und er wählte folgende Worte:

"Ausserordentlich freut mich, dass ich zum erstenmal in der Geschichte der Eidgenossenschaft Damen als gleichberechtigte Mitglieder dieses Parlamentes begrüssen darf."

Er fuhr fort:

"Nach langem Kampf und verschiedenen Anläufen ist es nun endlich soweit. Wir alle freuen uns darüber und heissen daher unsere Kolleginnen besonders herzlich Willkommen!"

Dafür gab es hier im Nationalratssaal Beifall, wie das Protokoll vermerkt.

Dann sagte Vontobel:

"Ihr Arbeitseinsatz und ihr Charme werden sicherlich dazu beitragen, in freundschaftlicher Zusammenarbeit Positives zu leisten. Dazu hoffe ich natürlich, dass vor allem der Charme dazu beiträgt, den Kontakt zwischen Volk und Parlament zu vertiefen und das Interesse an unserer parlamentarischen Arbeit, an der Politik überhaupt, auf eine breitere Basis zu stellen."

Ich zitiere den damaligen Nationalratspräsidenten aus zwei Gründen:

Erstens, weil es für die Schweizer Demokratie ein unzweifelhaft zentrales Ereignis war, dass sich 1971 endlich auch gleichberechtigte Bürgerinnen aus Fleisch und Blut zur Skulptur der Stauffacherin hinter mir gesellten.

Und ich freue mich ausserordentlich, dass heute eines der erstgewählten weiblichen Mitglieder des eidgenössischen Parlaments hier unter uns ist, nämlich die Alt-Nationalrätin Hanna Sahlfeld.

Ich zitiere ihn zweitens, weil es zeigt, wie viel sich seither geändert hat. Oder was würde passieren, wenn heute ein Nationalratspräsident es wagen würde, primär die Wirkkraft des weiblichen Charmes hervorzuheben? Ich muss es Ihnen nicht sagen.

Geschätzte Damen und Herren,

Comme le disait très justement William Vontobel il y a cinquante ans : nous y étions "enfin". Après un long et inlassable combat mené par de nombreuses femmes - et des hommes aussi - le corps électoral suisse, encore exclusivement masculin, a approuvé le 7 février 1971, dans les urnes, l'introduction du suffrage féminin.

Une majorité des citoyens suisses avait ainsi reconnu qu'il n'était pas digne d'une démocratie de priver les femmes suisses de l'égalité politique, et ainsi du droit de participer aux décisions concernant l'avenir du pays et d'assumer des responsabilités.

In einem Land notabene, das 123 Jahre zuvor eine demokratiepolitische Vorreiterrolle in Europa eingenommen hatte. Damals, 1848, hatten die Gründerväter des Schweizer Bundesstaats das allgemeine Wahlrecht in die erste Bundesverfassung aufgenommen. Zwar nur für die erwachsenen Männer und mit gewissen Abstrichen noch, aber doch umfassender als die anderen Staaten Europas.

In den nachfolgenden Jahrzehnten baute die Schweiz diese Vorreiterrolle noch weiter aus - zuerst führte sie 1874 das fakultative Gesetzesreferendum ein und 1891 auch die Volksinitiative.

Das waren grosse demokratiepolitische Errungenschaften. Diese ausgebauten Volksrechte waren auch in hohem Masse identitätsstiftend für unser kleines, mehrsprachiges Land - und sie sind es bis heute, über alle ideologischen Gräben hinweg.

Es waren dann ironischerweise just auch diese ausgebauten Volksrechte, die dazu beitrugen, dass die Schweiz im 20. Jahrhundert in Sachen Frauenstimmrecht zur demokratiepolitischen Nachzüglerin wurde. In keinem anderen Land - ausser Liechtenstein - lag der Entscheid darüber, auch den Frauen dieses fundamentale Bürgerrecht zu gewähren, in der Hand jedes einzelnen stimmberechtigen Mannes.

Nach zahlreichen erfolglosen Anläufen auf kantonaler Ebene wurde im Jahr 1959 zum ersten Mal über das Frauenstimmrecht auf eidgenössischer Ebene abgestimmt. Damals verweigerten noch zwei Drittel der Männer den Frauen die demokratische Mitsprache.

Sie verweigerten es entgegen der Empfehlung von Bundesrat und Parlament - und obwohl der Bundesrat in seiner Botschaft von 1957 zuhanden der Zweifler immerhin schwarz auf weiss festgehalten hatte, dass es - ich zitiere - "auch die Auffassung der heutigen Medizin sein dürfte, dass die Intelligenz nicht ausschliesslich nach dem relativen Gewicht des Gehirns bestimmt werden kann"!

Ich kann die Lektüre dieser 135-seitigen Botschaft übrigens sehr empfehlen. Sie gibt einen guten Einblick in das damalige Denken über Geschlechterfragen.

Ich möchte Ihnen eine kleine Kostprobe nicht vorenthalten. Die Passage zeigt, welchen Zuschreibungen nicht nur die Frauen, sondern auch die Männer damals ausgesetzt waren!

Ich zitiere:

"Ist das Denken des Mannes mehr abstrakt, bestimmt durch Reflexion, logische Konsequenz und Sachlichkeit, so ist das ihre stärker beeinflusst durch Gefühl und Gemüt, mehr auf die Person als auf die Sache und mehr auf das Zunächstliegende als das Grundsätzliche eingestellt. Was aber das Denken der Frau vielleicht hie und da an logischer Konsequenz vermissen lässt, ersetzt sie durch die ihr eigene, auf das Praktische und Konkrete gerichtete Klugheit, die ihr oft ein unmittelbareres Erkennen des Richtigen und Wesentlichen gestattet. Wenn die Frau in ihren Schlüssen mehr dem Risiko der Unsachlichkeit ausgesetzt ist, so läuft sie dafür umsoweniger Gefahr, eine gute Sache einem scheinbar richtigen logischen Schluss zu opfern."

Zitatende.

Etwas bösartig könnte man sagen: Nur zwei Jahre später, 1959, zeigte das deutliche Nein des männlichen Stimmvolks zum Frauenstimmrecht, dass solche Zuschreibungen immer zu kurz greifen. Zumindest hätte man das Frauenstimmrecht nach gründlicher "Reflexion" schon damals als "logische Konsequenz" einer liberal-demokratischen Staatsauffassung erkennen können.

Stattdessen mussten die Schweizer Frauen nochmals zwölf Jahre warten. Dann aber war die Sache reif. Bei der Abstimmung von 1971 kippte das Stimmverhältnis. Nun stimmte sogar eine komfortable Mehrheit von zwei Dritteln der Schweizer Männer dem Anliegen zu.

Das war fraglos ein Sieg der Frauen, die unermüdlich dafür gekämpft hatten, als gleichwertige Bürgerinnen anerkannt zu werden. Sie hatten nicht nur den Bundesrat und das Parlament von diesem Anliegen überzeugt - sondern auch ihre eigenen Ehemänner, ihre Väter und Söhne und ihre Arbeitskollegen.

Und es war ein Sieg der Demokratie.

Der 7. Februar 1971 ist die Geburtsstunde jener Demokratie, auf die wir heute zu Recht stolz sind: einer ganzen Demokratie.

Le 7 février 1971 marque la naissance de cette démocratie dont nous sommes aujourd'hui fiers, à juste titre : une démocratie complète.

Mais le 7 février 1971 n'est évidemment pas la fin de l'Histoire. Il a encore fallu attendre jusqu'en 1981 pour que l'égalité de l'homme et de la femme soit inscrite dans la Constitution. Et l'égalité dans le droit civil n'est arrivée qu'en 1988, avec le nouveau droit matrimonial.

Man mag bedauern, dass all das so lange gedauert hat. Aber es ist müssig, damit zu hadern. Entscheidend ist nicht, was vor 30 oder 50 Jahren war, entscheidend ist, wo wir heute stehen.

Geschätzte Anwesende,

Es ist erst das zweite Mal, das ich selber hier, an diesem Rednerpult stehe. Das erste Mal war am 5. Dezember 2018. Damals wurden hier, in diesem Saal, Viola Amherd und ich in den Bundesrat gewählt. Zwei Frauen gleichzeitig. Das war ein Novum - aber eine Sensation war es zum Glück nicht mehr!

Zwar hatte es nach der Einführung des Frauenstimmrechts im Jahr 1971 ganze 13 Jahre gedauert, bis 1984 mit der freisinnigen Elisabeth Kopp die erste Bundesrätin gewählt wurde.

Seither aber wurden immerhin acht weitere Frauen in den Bundesrat gewählt und zurzeit sind drei Frauen gleichzeitig im Amt. Ich möchte bei dieser Gelegenheit auch meine Kollegin Viola Amherd herzlich begrüssen, die heute ebenfalls hier ist. Simonetta Sommaruga war leider verhindert, aber ich bin sicher, sie feiert in Gedanken auch mit.

Und ich hoffe, ich kann für uns alle drei sprechen, wenn ich zwei Dinge feststelle: Es ist erstens wichtig, dass in der Landesregierung Männer und Frauen vertreten sind - unterschiedliche Männer und verschiedene Frauen. Und zweitens: Unser Geschlecht spielt im Kollegium keine Rolle. Auch das ist wichtig. Weil nur das Normalität bedeutet.

Wir stehen heute an einem ganz anderen Punkt als noch vor wenigen Jahrzehnten. Längst stellen Frauen an unseren Universitäten die Mehrheit der Studierenden. Auch die Aufholjagd der Frauen in der Politik ist bemerkenswert. Nicht nur im Bundesrat, auch hier, im Nationalrat, steht die Schweiz mit einem Frauenanteil von über 40 Prozent anderen europäischen Ländern in nichts nach. In anderen politischen Gremien gibt es noch Luft nach oben. Auch in den Chefetagen der Unternehmen.

Wir können daher auch heute noch nicht das Ende der Geschichte ausrufen. Herausforderungen bleiben bestehen. Ich denke insbesondere an die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Nicht nur für erwerbstätige Mütter, auch für erwerbstätige Väter. Wobei man zu Beruf und Familie eigentlich immer auch noch die Politik anfügen müsste. Und ich denke natürlich auch an die Bekämpfung von häuslicher und sexueller Gewalt, von der Frauen überdurchschnittlich betroffen sind.

Diese Herausforderungen zu bewältigen, ist auch - aber längst nicht nur - eine Aufgabe der Politik. Der Staat, auch die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber können die Rahmenbedingungen verbessern und Fehlanreize beseitigen. Aber die Gleichstellung im Alltag lässt sich nicht staatlich verordnen. Und sie lässt sich auch nicht gegen die Männer, sondern nur mit ihnen erkämpfen.

Vielmehr braucht es die Bereitschaft und den Beitrag der Frauen und der Männer gleichermassen - nicht nur auf der politischen, sondern auch auf der privaten Bühne, Zuhause und am Arbeitsplatz.

Auch das hat der Kampf fürs Frauenstimmrecht gezeigt.

Es wäre ein geradezu historischer Rückschritt, wenn sich Frauen und Männer wie einst wieder auseinanderdividieren liessen.

Geschätzte Damen und Herren,

ich komme zum Schluss. Und ich möchte betonen: Nicht nur gleichstellungspolitische, auch demokratiepolitische Errungenschaften brauchen Pflege. Die direkte Demokratie braucht die offene und konstruktive Auseinandersetzung. Und auch sie braucht den Beitrag und die Bereitschaft jedes Einzelnen. Die Bereitschaft, dem Anderen zuzuhören, ihm eine eigene Meinung zuzugestehen und die eigene Position auch immer wieder zu hinterfragen. Die Bereitschaft, das Gemeinsame zu suchen statt das Trennende zu kultivieren:

"Il n'y a pas de liberté sans compréhension réciproque", a dit Albert Camus.

Ce n'est toutefois pas avec une citation que je souhaite terminer, mais avec un immense remerciement.

Je remercie toutes les femmes, et aussi les hommes, qui se sont engagées pendant des décennies en faveur de l'égalité politique des femmes dans notre démocratie.

Ich danke dem Parlament, insbesondere dem hier anwesenden Nationalratspräsidenten, dass wir diese wichtige gleichstellungs- und demokratiepolitische Errungenschaft heute hier, im Nationalratssaal, feiern dürfen.

Ich danke all jenen, die heute Abend einen aktiven Beitrag zu dieser Feier leisten, insbesondere auch den Jugendlichen aus allen 26 Kantonen. Ich habe sechs von ihnen, die seit kurzem erstmals ihr Stimmrecht ausüben dürfen, vor zwei Wochen getroffen und es freut mich, mit welcher Energie und Freude sie sich politisch engagieren. Wir werden nachher noch von ihnen hören.

Je remercie chaleureusement mon collègue, le président de la Confédération, Guy Parmelin.

Und ich danke Ihnen allen sehr herzlich für das Mitfeiern und für Ihre Aufmerksamkeit.

Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend!

 


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