"Bekämpfung der häuslichen und der sexuellen Gewalt"

Bern, 29.10.2021 - Frauensession 2021; Bundesrätin Karin Keller-Sutter - es gilt das gesprochene Wort

Sehr geehrte Frauen

Ich bin heute ja bereits die Dritte im Bunde nach meinen Kolleginnen, den Bundesrätinnen Sommaruga und Amherd. Und ich muss sagen, es ist ungewohnt still in diesem Saal! Ich freue mich über die Gelegenheit, hier über zwei Themen sprechen zu können, die mein Departement betreffen und die mir auch persönlich sehr am Herzen liegen: Die Bekämpfung der häuslichen und der sexuellen Gewalt.

Mit dem Problem der häuslichen Gewalt beschäftige ich mich schon seit bald 20 Jahren. Als junge Regierungsrätin habe ich 2003 im Kanton St. Gallen das erste Gesetz gegen häusliche Gewalt eingeführt. Das hatte damals in der Schweiz Pioniercharakter. Es ermöglichte der Polizei, die gewaltausübende Person vor Ort aus der Wohnung wegzuweisen, nach dem Motto: "Wer schlägt, der geht". Es gab damals übrigens auch Widerstände. Nicht alle politischen Parteien waren damit einverstanden, der Polizei mehr Mittel in die Hand zu geben. Heute ist die Wegweisung bei häuslicher Gewalt Standard in allen Kantonen.

Auch sonst hat sich seither glücklicherweise viel bewegt. Das Problembewusstsein ist heute deutlich höher als damals und auch das rechtliche Instrumentarium im Bereich der Prävention und der Repression und auch des Opferschutzes wurde stark ausgebaut.

Dennoch bleibt die häusliche Gewalt eine traurige Realität, die Schlagzeilen der letzten Wochen haben das eindrücklich in Erinnerung gerufen. Häusliche Gewalt trifft nicht nur, aber vor allem Frauen. Rund 70 Prozent der Opfer häuslicher Gewalt sind weiblich. Im Schnitt stirbt alle zwei bis drei Wochen eine Frau wegen häuslicher Gewalt.

Eine Herausforderung bei der Bekämpfung häuslicher Gewalt besteht darin, dass eine Vielzahl von ganz unterschiedlichen Akteuren involviert ist. Für die Prävention und den Schutz vor häuslicher Gewalt sind in erster Linie die Kantone zuständig. Sie sind auch zuständig für die Strafverfolgung und die Einrichtung von Anlaufstellen und Notunterkünften für die Opfer. Zur Verhütung und Bekämpfung häuslicher Gewalt bestehen in den Kantonen Interventions- und Koordinationsstellen.

Seitens des Bundes nehmen mein Departement, das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement, und das Innendepartement verschiedene Aufgaben war. Die Gesetzgebung, sei es im Zivilrecht, im Strafrecht oder im Opferhilferecht, wird vom EJPD betreut, während das EDI mit dem Gleichstellungsbüro Aufgaben im Bereich der Prävention und der Koordination wahrnimmt, unter anderem bei der Istanbul-Konvention.

Zu den zentralen Akteuren gehören weiter die Opferhilfe-Beratungsstellen, die Schutzunterkünfte für Opfer häuslicher Gewalt und Dachverbände wie die Dachorganisation Frauenhäuser Schweiz und Liechtenstein. Sie sind unverzichtbare Partner der zuständigen Behörden.

Nur wenn alle Akteure zusammenarbeiten und wenn das vorhandene rechtliche Instrumentarium konsequent umgesetzt wird, können wir nachhaltig etwas bewirken. Aus dieser Erkenntnis hat mein Departement vor ungefähr zwei Jahren auch die Idee des strategischen Dialogs "Häusliche Gewalt" lanciert.

Als ehemalige Regierungsrätin wusste ich, dass wir in diesem Thema nur weiterkommen, wenn alle relevanten Akteure einbezogen werden. Gemeinsam haben wir eine Roadmap mit zehn Handlungsfeldern entwickelt, die das EJPD und die kantonalen Konferenzen der Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren sowie der Sozialdirektorinnen und -direktoren (KKJPD und SODK) im Frühjahr gemeinsam unterzeichnet haben. Die Roadmap enthält auch ganz konkrete Massnahmen: So wollen die Kantone beispielsweise Pilotversuche starten, in denen sie betroffenen Personen Notfallknöpfe zur Verfügung stellen. Der strategische Dialog war wichtig, um hier einen Schritt weiterzukommen. Er hat dazu beigetragen, dass die Kantone gewisse Vorbehalte abgebaut haben. Ich bin persönlich überzeugt, dass wir den technischen Fortschritt nutzen sollen. Der Bundesrat wird zu diesem Thema demnächst auch einen Bericht verabschieden. Ein weiteres Beispiel ist die Idee einer zentralen Telefonnummer, damit Opfer häuslicher Gewalt einfach Hilfe finden können. Hier ist die Sozialdirektorenkonferenz an der Arbeit und ich bin zuversichtlich, dass das gelingen wird.

Mit der Verabschiedung dieser Roadmap haben die involvierten Akteure zum Ausdruck gebracht, dass sie sich weiterhin mit geeinten Kräften dafür einsetzen wollen, häusliche Gewalt so weit wie möglich zu reduzieren und die Sicherheit der Opfer und der Bevölkerung insgesamt zu verbessern. Mein Departement und die Kantone haben vereinbart, die Umsetzung dieser Massnahmen regelmässig zu überprüfen.

Eine erste Bestandesaufnahme konnten wir bereits Mitte Oktober vornehmen. Ich hatte einen sehr positiven Eindruck. Die Entschlossenheit aller Akteure, die Umsetzung der Massnahmen an die Hand zu nehmen und etwas bewirken zu wollen, war deutlich spürbar. Ich bin überzeugt, dass wir hier auf gutem Weg sind. Auch wenn wir leider nie alle Fälle von häuslicher Gewalt werden verhindern können, so ist jeder einzelne verhinderte Femizid ein Erfolg.

Liebe Frauen,

ich äussere mich jetzt gerne auch noch zum spezifischen Thema der sexuellen Gewalt.

Bei der sexuellen Gewalt ist der Anteil weiblicher Opfer noch höher als bei der häuslichen Gewalt. Wie Sie sicher wissen, beschäftigt sich die Rechtskommission des Ständerats aktuell mit der Revision des Sexualstrafrechts.

Das Verfahren ist etwas ungewohnt. Der Bundesrat hatte dem Parlament bereits 2018, also noch vor meinem Amtsantritt, eine Botschaft zur Harmonisierung der Strafrahmen unterbreitet. Es ging bei dieser Vorlage also nicht um materielles Recht, sondern um die Frage, mit welcher Strafe welche Delikte geahndet werden. Es zeigte sich dann jedoch relativ rasch, dass es gerade beim Sexualstrafrecht auch einen inhaltlichen Reformbedarf gibt. Ich habe der Rechtskommission deshalb beantragt, diesen Teil von der ursprünglichen Vorlage abzuspalten. Nur so konnte eine breite und vertiefte Diskussion ermöglicht werden. Es ist klar: mit dem Strafrecht kann man eine Gesellschaft nicht verändern. Aber das Strafrecht muss umgekehrt mit den Entwicklungen in der Gesellschaft Schritt halten. Aus meiner Sicht ist hier Handlungsbedarf gegeben.

Die öffentliche Diskussion beschränkt sich ja oft auf die Frage, ob man eine "Nein heisst Nein"- oder eine "Nur Ja heisst Ja"-Lösung will. Das wird der Komplexität des Themas nicht ganz gerecht. Wichtig ist, auch mir persönlich, dass wir eine Lösung finden, die den Opfern besser gerecht wird. Eine Studie zeigt, dass sich bei der Vergewaltigung die Verurteilungsraten in den Kantonen stark unterscheiden. Im Kanton Waadt wurden zwischen 2016-2018 61% der Beschuldigten verurteilt, während es im Kanton Zürich nur 7,4% waren. Es gilt darum zu prüfen, ob diese Unterschiede nicht auch eine Präzisierung beim Vergewaltigungstatbestand notwendig machen. Der Bundesrat wird zum Entwurf der Rechtskommission voraussichtlich nächstes Jahr Stellung nehmen können.

Unabhängig davon, welche Lösung sich am Ende durchsetzen wird, wird eine Schwierigkeit bleiben. Nämlich die Schwierigkeit, dass es sich bei diesen Straftaten oft um Vier-Augen-Delikte handelt und die Beweisführung sehr schwierig ist, wenn Aussage gegen Aussage steht.

Man kann auch nicht alle Probleme über das Strafrecht lösen. Es ist ebenso wichtig, dass Opfer von sexueller Gewalt dazu motiviert werden können, tatsächlich auch Strafanzeige einzureichen. Dafür müssen sie Vertrauen in die Strafbehörden - also die Polizei, die Staatsanwaltschaften und die Gerichte - haben. Vertrauen können Sie nicht mit dem Strafrecht erhöhen. Es braucht hier sicher auch begleitende Massnahmen.

Mit anderen Worten: Die Behandlung dieser Fragen ist alles andere als trivial. Ich bin aber überzeugt, dass eine Lösung gefunden wird.

Geschätzte Damen,

Ich komme zum Schluss.

Bei der Bekämpfung der häuslichen und der sexuellen Gewalt ist offensichtlich, wie wichtig es ist, nicht nur Männer, sondern auch Frauen mit am Tisch zu haben, und zwar auf allen Ebenen, gerade auch in der Politik. Genauso wichtig ist aber, dass Frauen in ihrer Vielfalt vertreten sind, so wie wir sie heute auch hier sehen, Frauen mit unterschiedlichem beruflichen, sozialen und politischen Hintergrund. Für diese Vielfalt stehen auch meine Kolleginnen Sommaruga und Amherd und ich.

Verstehen Sie das ruhig als Aufforderung: Es hat noch Platz für mehr Frauen in der Politik! Vielleicht kommen Sie im Verlauf der Frauensession ja auf den Geschmack. Politik ist aber nicht per se eine Genderfrage. Gerade auch die Bekämpfung von häuslicher und sexueller Gewalt sollte man nicht als Kampf gegen die Männer missverstehen, dieser Kampf gelingt nur gemeinsam.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen noch eine erfolgreiche Session.

 


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