1.-August-Rede in Saas-Balen (VS)

Bern, 31.07.2022 - Ansprache von Bundesrätin Simonetta Sommaruga

(es gilt das gesprochene Wort)

Liebe Saaserinnen und Saaser
Chères et chers concitoyens
Care e cari Concittadini
Dear guests from abroad

Ich habe mich sehr gefreut, heute Abend zu Euch nach Saas-Balen zu kommen.
Ich muss zugeben: Ich habe zuerst nicht genau gewusst, wo Saas-Balen liegt. Klar, Saas-Fee war mir ein Begriff: Die «Perle der Alpen» und autofrei seit eh und je. Saas-Grund kannte ich auch: Da gehen alle ins Skilager. Und Saas-Almagell sowieso … Pirmin Zurbriggen, Schweizer Sportgeschichte.

Ich habe eine Mitarbeiterin gefragt. Sie stammt aus dem Oberwallis, ihre Grosseltern sind von Saas-Almagell. Sie hat mir erklärt: «Wissen Sie, heutzutage machen wir da nicht mehr so einen Unterschied. Heute sehen wir uns alle als Saasini. Für uns ist das ganze Tal grossartig.»
Und sie erzählte weiter:
«Meine Oma hat mir immer gesagt:
im Saas ist die beste Luft,
es gibt keine Schlangen,
und die Himbeeren haben keine Würmer.»

Da war meine Entscheidung klar: Da will ich hin. So viel Liebe zur Heimat! Das ist der richtige Ort für eine 1.-Augustfeier.

Meine Mitarbeiterin hat mich dann aber auch noch gewarnt: «Das mit den Himbeeren, das habe ich als Kind wirklich geglaubt. Ich habe mindestens 1000 Himbeeren gegessen … hmmm … … vielleicht probieren Sie lieber das Roggenbrot. Es ist das Weltbeste, das können Sie mir glauben!»

Liebe Saasini

Meine Mitarbeiterin hat mir noch viel mehr erzählt. Von den Saaser Hauswürsten. «Es gibt keine besseren!» Von den Silvesterfeiern – «sensationell!» Vom Skifahren. Von den Wanderwegen. Vom Biken. Von den Gletschertouren. Und immer wieder von der Natur. Die Felsen, die Matten, der Sternenhimmel, die Wälder, die beste Luft.

Ich wohne in der Stadt, es ist oft lärmig, ich sehe viel Beton – natürlich bin ein bisschen neidisch auf Euch im Saastal. Aber ich weiss. Es gibt auch die Kehrseite der wunderbaren Natur.

Ihr lebt seit Generationen mit dieser Kehrseite. Ich habe gelesen, dass vor 300 Jahren ein Steinschlag die erste Kapelle von Saas-Balen zerstört hat. Eure Vorfahren haben sie liebevoll neu aufgebaut. Kurz darauf kam der zweite Steinschlag … und hat wieder alles zerstört.

Eure Vorfahren haben dann die Konsequenzen gezogen: Die Rundkirche von heute steht an einem sicheren Ort.

Und dort, wo die Kleine Kapelle war, ist jetzt die Postauto-Haltestelle. Ich bin vorhin dort ausgestiegen und habe in die Berge hinaufgeschaut. Die Aussicht, der Fellbachfall, die Farben – es ist fantastisch! Und trotzdem habe ich ein bisschen den Kopf eingezogen.
Im Tal unter den Bergen ist man verletzlich.

In den Bergen spürt man die Folgen der Erderwärmung lange vor den Städten – und man spürt sie viel stärker: Die Schlammlawine in Blatten. Eislawinen brechen von den Gletschern. Es ist zu heiss für Sommerski, vorgestern mussten zwei Lifte auf dem Fee-Gletscher schliessen. Der Permafrost löst sich – es fehlt der Leim, der die Felsen zusammenhält. Und im Winter fehlt auch immer häufiger der Schnee.

À la longue bedroht der Klimawandel den Tourismus. Und gleichzeitig ist der Tourismus doch die Lebensgrundlage des ganzen Saastals. Ohne den Tourismus könnten die Jungen nicht im Saas bleiben, das Saas würde sich entvölkern. Das sind Sorgen, die uns alle beschäftigen.
Wir spüren es alle: Wir können nicht einfach gleich weiter kutschieren wie bisher. Wir müssen handeln.

Aber wem sage ich das?

Wer so wie Ihr in der Natur und mit der Natur, aber auch von der Natur lebt, der weiss, wie sehr wir mit ihr auskommen müssen.

Ihre Vorfahren haben vorgelebt, dass der Mensch sein Schicksal in die eigenen Hände nehmen muss – und dass er diese Verantwortung auch tragen kann.

Die zweite Oberwalliserin in meinem Team hat mir die Sage «Vom Herrgott und den Wallisern» erzählt:
Petrus kam vom Himmel, weil der Herrgott gesehen hatte, wie sich die Walliser abrackerten, um ihre Felder zu bewässern. «Wisst ihr was», sagte Petrus, «der Herrgott wird künftig für euch wässern und es regnen lassen.» Die Bauern verzogen die Nasen. Petrus lächelte und sagte: «Der Herrgott ist auch ein halber Walliser.» «Was, nur ein halber Walliser?» sagten die Einheimischen. «Dann wässern wir lieber selbst!» Und so wässert heute in der übrigen Schweiz der liebe Gott, im Wallis aber wässern die Walliser selbst.

Die Sage ist uralt. So alt wie die Suonen. Diese sind im Wallis schon in der Römischen Zeit angelegt worden, auch im Saastal. Über hunderte von Jahren haben die Walliser mit den Suonen das Wasser so geleitet, dass nichts vergeudet wird und dass es für alle genug hat. Das ist nicht nur gerecht. Das ist auch ein sorgfältiger Umgang mit dem kostbaren Gut Wasser.
Das Wasser spielt im Wallis seit immer eine zentrale Rolle. Das «blaue Gold» ist gerade heute gefragter denn je. Die ganze Schweiz möchte mehr davon, damit wir uns aus der Abhängigkeit vom russischen Gas befreien können. Also schauen alle auf die Wasserkraft - und damit natürlich auch aufs Wallis.

Denn Euer Kanton ist der mit Abstand wichtigste inländische Energieproduzent.

Ihr habt in Eurem Kanton weit über hundert grosse Wasserkraftanlagen. In Euren Bergen liegen viele Stauseen, unter anderem der Mattmark-Stausee hier über dem Saastal. Wenn man die Walliser Stauseen zusammenzählt, wird klar: Das ist ein Riesen-Energiereservoir.
Fast die Hälfte der Schweizer Energie-Speicherkapazität liegt im Wallis – fast die Hälfte! Für die Versorgungssicherheit der ganzen Schweiz ist das ein Segen. Gerade in diesen Zeiten mit Krieg in Europa.

Ausserdem liefert die Walliser Wasserkraft Strom für umgerechnet gut 2 Millionen Haushalte. Das ist Strom für rund die Hälfte aller Wohnungen und Privathäuser in der Schweiz. Auch das eine eindrückliche Zahl!

Die Walliser Wasserkraft hat auch eine europäische Dimension. Vor ein paar Wochen durfte ich dabei sein, als das neueste Walliser Kraftwerk – Nant de Drance – in Betrieb ging. Es ist ein Pumpspeicherkraftwerk, und es hilft, das Schweizer Stromnetz stabil zu halten. Es dient ebenfalls dazu, das europäische Stromnetz bei Schwankungen auszugleichen und zu justieren. Damit kann man Blackouts verhindern.

Liebe Saasini

Ich sage es seit langem: die Wasserkraft ist das Rückgrat der Schweizer Stromversorgung. Ihr seid eine grosse Stütze für das Land.

Dafür möchte ich Euch allen und dem ganzen Wallis heute von Herzen Danke sagen. Nicht nur für die Energie, die wir bekommen. Dafür natürlich auch. Ganz besonders danken möchte ich euch für das, was dahinter steht: Für Euren Pioniergeist.

Für das Anpacken. Wie es in der Sage «Vom Herrgott und den Wallisern» steht.

Es braucht nämlich Pioniergeist, wenn wir die einheimischen Energien, Wind-, Wasser- und Sonnenkraft schnell und entschlossen ausbauen wollen. Nur wenn wir anpacken, kommen wir auf die sichere Seite.

Die Schweiz hat schon einmal eine Energiewende geschafft. Das war vor hundert Jahren, nach dem 1. Weltkrieg., nach den kalten Wintermonaten ohne Kohle-Lieferungen aus dem Ausland. Die Menschen froren, die Betriebe konnten nicht mehr produzieren.

Unsere Vorfahren packten an und bauten nach dem Krieg die einheimische Wasserkraft massiv aus – auch und gerade im Wallis. Und so befreite sich die Schweiz aus der Abhängigkeit von Kohle. Von diesem Umstieg profitieren wir bis heute.

Und jetzt ist unsere Generation dran. Jetzt müssen wir anpacken.

Ich bin mir natürlich bewusst, dass es gerade beim Ausbau der Wasserkraft, aber auch bei Solarpanels und Windrädern Zielkonflikte gibt zwischen der Energieproduktion und dem Natur- und Landschaftsschutz.

Aber wir müssen einen Weg finden.

Und ich bin überzeugt: Wenn alle bereit sind, einen Schritt aufeinander zuzugehen und das gemeinsame Ziel in den Vordergrund zu stellen, dann können wir in der Schweiz Lösungen finden. Und wir haben sie auch immer wieder gefunden.

Ich habe vor zwei Jahren Umweltorganisationen, Wasserkraft-Branche und Kantone an einen Runden Tisch eingeladen, um Lösungen für die Wasserkraft zu suchen. Es hat harte Diskussionen gegeben. Aber am Schluss sind alle über ihren Schatten gesprungen. Alle haben Kompromisse gemacht. Auch der Mattmarkstausee gehört mit einem höheren Staudamm zu den gemeinsam verabschiedeten Projekten.

Natürlich ist jeder Stausee, jede Fotovoltaik-Fläche und jedes Windrad ein Eingriff in die Natur. Aber wir können gemeinsam die besten Lösungen suchen: jene, die der Natur am wenigsten schaden und den grössten Nutzen bringen.

Hier im Saaser-Tal gibt es solche Diskussionen auch. Die Diskussion, zum Beispiel, ob es auf dem Kirchendach von Saas Fee Solarpanels geben soll. Man hat mir gesagt, dass der Bischof Entgegenkommen zeige. Das ist natürlich erfreulich. Meine Erfahrung ist, dass aus Diskussionen oft die besten Lösungen entstehen.

Liebe Saasini

Wir feiern heute den 1. August, den Geburtstag der Schweiz. Wir feiern an diesem Tag auch die Geschichte der Schweiz, auf die wir alle stolz sind: Wie unser Land mit seinen verschiedenen Kulturen, Sprachen und Religionen es immer wieder geschafft hat, den Zusammenhalt zu pflegen. So etwas ist nur möglich, wenn man einen Sinn dafür hat, dass nicht nur die eigenen Interessen zählen, sondern dass es darüber hinaus auch noch etwas Gemeinsames gibt, das uns verbindet. Gemeinschafts-Sinn eben.

Gemeinschaftssinn bedeutet für mich, dass man einen Effort leistet für das Gemeinsame, einen Effort für das, was über das eigene Interesse hinausgeht.

Genau das lebt ihr im Saastal vor. Euer Gemeinschaftssinn ist legendär.

Das Saastal hat mehr Vereinsmitglieder als Einwohner. Mehr als jede und jeder von euch tut regelmässig etwas für das Zusammensein von Menschen und für den Zusammenhalt der Gemeinschaft. Ihr pflegt die Tradition «Gmeiwärch». Das heisst: Viele von euch stellen einmal im Jahr ihre Zeit und Energie freiwillig in den Dienst der Gemeinschaft. Kein Wunder, stammt Jens Blatter mit seinem eindrücklichen Projekt «Spendenmarathon» aus dem Saaser Tal.

Einen solchen Gemeinschaftssinn muss man weit suchen. Ich habe meine beiden Oberwalliserinnen im Team gefragt: Woher kommt dieser Gemeinschaftssinn? Beide haben mir die gleiche Antwort gegeben. Sie sagten:
«Im Wallis gibt es eine Tradition: Jeder zahlt eine Runde. Weil jeder weiss: Am Schluss bekomme ich mehr als ein Glas Wein.»

Liebe Saasini

Ich danke euch von Herzen für die Einladung zu eurem 1. August-Fest. Ihr habt mich eingeladen – obwohl wir das Heu nicht immer auf der gleichen Bühne haben. Ich bin gerne gekommen. Und ich freue mich, mit euch ins Gespräch zu kommen. Es gibt bestimmt noch das Eine oder Andere zu diskutieren.

Heute feiern wir gemeinsam die Schweiz, das Wallis und das Saaser-Tal. Danke, dass Ihr das möglich gemacht habt.


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