Rede zum 1. August 2022

Bern, 01.08.2022 - Auszüge aus der Rede von Bundesrat Alain Berset zum 1. August 2022. Luzern/Stein am Rhein/Vully-les-Lac. Es gilt das gesprochene Wort

Der erste August ist eine gute Gelegenheit, um uns darauf zu besinnen, was die Stärke der Schweiz ausmacht: die Kompromissfähigkeit, die Meinungsfreiheit, der Respekt vor dem politischen Gegner

Wenn wir auf die letzten Jahre zurückblicken, dann stellen wir fest: Die Kultur der «social media» hat leider unsere politischen Debatten geprägt: mit ihrer Lust an haltloser Polemik, ihrem Willen zur Dauerempörung, mit ihrer geballten Wut auf Leute in der Öffentlichkeit und ihrem seltsamen Stolz auf ganz einfache Analysen. Nur «Ja oder Nein», nur «Gut oder Böse», nur «Freund oder Feind» – und nichts dazwischen, kein Raum für Annäherung, für Dialog, für tragfähige Kompromisse.

Kompromisslosigkeit wurde von manchen eher als Tugend gesehen – und nicht mehr als das, was sie ist: Als Blockade-Haltung. Und Rechthaberei wurde gern mit Geradlinigkeit verwechselt – und nicht als das verstanden, was sie ist: Untauglich für die Demokratie.

Diese letzten Jahre aber haben wir zu viel über die anderen geredet – und zu wenig mit den anderen, so haben wir uns vielleicht stark gefühlt. Aber die Schweiz haben wir so geschwächt.

Was hat uns seit jeher stark gemacht?

·         Das gemeinsame Ringen um gute Lösungen.

·         Die Neugier auf die Sicht der anderen.

·         Und das Wissen darum, dass auch das Gegenüber Recht haben könnte.

Jetzt – angesichts einer neuen, bedrohlichen Welt mit einem Krieg in Europa, mit Knappheit und Inflation, mit Verunsicherung über unseren Platz in der Welt – ist es sogar noch wichtiger geworden, dass wir wieder vermehrt aufeinander zugehen.

Niemand weiss, wie sich unsere Welt durch Krieg und Pandemie verändern wird. Aber wir kennen die entscheidenden Fragen, mit denen wir konfrontiert sind:

·         Wie definieren wir unsere Neutralität in einer globalisierten Welt, in der Demokratien gegen autoritäre Regime stehen?

·         Wie lässt sich Solidarität mit der Ukraine mit unserer Neutralität vereinbaren?

·         Was bedeutet dieser Krieg für unsere eigene Sicherheit?

·         Und wie können wir verhindern, dass die Inflation die wirtschaftlich Schwächeren noch weiter schwächt?

Und die grossen Herausforderungen aus der Zeit vor dem Krieg – sie sind alle noch da. Die Klimakrise trifft uns alle – wie können wir verhindern, dass uns die Zeit endgültig davonläuft? Und wie geht es weiter mit unserem Verhältnis zur EU?

Auch das Problem der extremen globalen Ungleichheit ist nach wie vor ungelöst.

Und auch die Altersvorsorge muss auf faire Weise reformiert werden. Wenn das System in Schieflage gerät, dann verlieren alle – denn ein Alter in materieller Sicherheit gehört zu den Fundamenten der Schweiz.

Und zu diesen Fundamenten gehört selbstverständlich auch, dass die Gesundheit für alle bezahlbar bleibt. Wer eine Zwei-Klassen-Medizin zulässt, schafft zwei Schweizen. Und das kann niemand wirklich wollen.

Die Corona-Krise hat uns gezeigt: Wir haben als Gesellschaft die Wahl. Wollen wir die Herausforderungen mit unserer traditionell starken Kultur der harten, aber konstruktiven Debatte angehen? Oder ziehen wir uns auf verhärtete Positionen zurück, von der aus wir die anderen unsere Verachtung spüren lassen?

Glauben wir noch an die Kraft des Pragmatismus und der praktischen Vernunft? Oder hängen wir Verschwörungstheorien nach, die abgeschottet sind gegen jede Form von Gegenbeweis? Nein, meine Damen und Herren Das kann es nicht sein. Das können wir besser. Ich bin überzeugt: Die grosse Mehrheit der Bevölkerung unseres Landes weiss, dass wir unsere politische Kultur nicht beschädigen dürfen, wenn wir als Land erfolgreich bleiben wollen.

Die grosse Mehrheit weiss, dass es genau die Vielfalt ist, die uns stark macht. Und zwar nicht nur die Vielfalt der Sprachen und Kulturen. Sondern die Vielfalt der Perspektiven, der Einschätzungen, der Ideen.

Wir sind als Land darauf angewiesen, dass die Diskussionen möglichst rational geführt werden. Dass die Qualität der Argumente zählt – und nicht die Lautstärke, in der diese vorgebracht werden.

Besinnen wir uns an diesem Tag auf das, was uns wirklich zusammenhält: Nicht, dass wir stets nett sind miteinander. Sondern, dass wir über alles streiten können – aber eben nicht endlos. Dass wir uns raufen – und uns dann wieder zusammenraufen. Und dass wir nach heftigen politischen Debatten ein Bier zusammen trinken.


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