«Die Wirklichkeit ist multilateral»

Bern, 23.05.2022 - Davos, 23.05.2022 – Eröffnungsrede von Bundespräsident Ignazio Cassis, Vorsteher des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) anlässlich des World Economic Forums 2022 – Es gilt das gesprochene Wort

Sehr geehrter Professor Schwab
Exzellenzen
Meine Damen und Herren

Das Forum in Davos ist ein Rückzug vom Alltag. Diese Distanz ist gewollt. Denn Distanz zum Alltag heisst nicht Distanz zur Realität. Rückzug schafft Denktiefe. Und im Austausch liegt das Potenzial für neue Lösungen. Deshalb sind wir hier. Dank Klaus Schwab - dem Spiritus Rector, dank den Organisatoren und dank Ihnen allen, die hierhergereist sind.

ILLUSIONÄRE STABILITÄT

Die letzten Jahrzehnte waren für viele Jahrzehnte der Hoffnung, die nach dem kalten Krieg geschaffene Ordnung habe Bestand. Sicher: es gab Rückschläge. Aber insgesamt ging es aufwärts. Offene Weltmärkte und technologischer Fortschritt erzeugten Wohlstand für hunderte Millionen und auch mehr Schub für mehr Demokratie, Freiheit und Stabilität.

Staaten, Wirtschaft und Menschen glaubten, was Staaten, Wirtschaft und Menschen gerne glauben: nämlich, dass es immer so weitergeht.

Dieses trügerische Fundament vermeintlicher Sicherheit verleitet dazu, die eigene Verletzlichkeit zu unterschätzen. Wer glaubt, Erfolgsfaktoren seien in Stein gemeisselt, übersieht leicht die Risiken von aufkeimendem Nationalismus, Machthunger und Protektionismus.

Aber plötzlich bricht das auf solche Hoffnungen gebaute Fundament auseinander. Kollidiert eine Krise mit der nächsten. Zuerst die Finanzkrise, dann die Erderwärmung, die Pandemie und am 24. Februar der Angriff Russlands auf die Ukraine.

Quasi über Nacht legte dieser Aggressionskrieg einen souveränen Staat in Trümmer, verwandelte Städte in Friedhöfe, raubte einem Volk seine Existenzgrundlage und zerschlug eine Epoche der Hoffnung.

Es ist ein Krieg, der alles missachtet, was die Staatengemeinschaft in Jahrzehnten an zivilisatorischem Fortschritt erreicht hat. Angesichts dieser brutalen Verletzung des Völkerrechts, insbesondere des humanitären Völkerrechts - hat die Schweiz den Krieg scharf verurteilt und die Sanktionen der EU übernommen.


KOOPERATIVE NEUTRALITÄT

Diese klare Haltung hat viele überrascht. In der Schweiz und im Ausland gab es Fragen, wie das mit unserer Neutralität vereinbar ist. Die Antworten darauf sind gerade in einer Situation des geopolitischen Umbruchs wichtig.

Also: warum haben wir so entschieden?

Demokratie muss stärker sein als Gewaltherrschaft, Völkerrecht stärker als Unterwerfung, Recht stärker als Macht, Selbstbestimmung stärker als Unterdrückung. Gegenüber der brachialen Verletzung fundamentaler Werte, die auch unsere Werte sind, gibt es grundsätzlich keine neutrale Haltung. Denn diese Werte stehen für die Freiheit schlechthin. Passivität toleriert den Rechtsbruch und kann dem Aggressor in die Hände spielen.

Deshalb steht die Schweiz mit den Ländern zusammen, die diesem Angriff auf die Grundfesten der Demokratie nicht tatenlos zuschauen.

Diese kooperative Neutralität entspricht der Schweiz:

•    Kooperativ als neutrales Land, das sich für die Stärkung eigener und gemeinsamer Grundwerte einsetzt.
•    Kooperativ als neutrales Land, das sich für die Sicherung eigener und gemeinsamer Friedensbemühungen einsetzt.
•    Kooperativ als neutrales Land, das sich für eine regelbasierte und stabile Sicherheitsarchitektur einsetzt, die nur multilateral entstehen kann.

Neutralität heisst nicht abseits zu stehen. Der staatspolitische Zwilling unserer Neutralität war und ist denn auch die Solidarität. Die Neutralität der Schweiz war nie starr, sondern wurde stets weiterentwickelt. Denn die Welt steht nie still. Konflikte und ihre Auswirkungen sind internationaler geworden. „Gemeinsam“ heisst, dass das Denken in grösseren Räumen wichtiger wird. Wenn unser demokratisches Umfeld bedroht ist und völkerrechtlich vereinbarte Werte wanken, ist auch die Schweiz bedroht. Das erleben wir jetzt.

Seine Grenzen findet der Handlungsspielraum im Neutralitätsrecht. Auf der Basis des Haager Abkommens gelten für die Schweiz die Grundsätze "keine Teilnahme an Kriegen, internationale Zusammenarbeit - aber keine Mitgliedschaft in militärischen Allianzen, keine Truppen und Waffenlieferungen für Kriegsparteien, keine Durchgangsrechte".


UKRAINE RECOVERY KONFERENZ IN LUGANO

Die Geschichte zeigt, dass es nach Kriegen eine Zeit danach gibt. Auf dieses Ziel hin ist die Schweiz bereit, als Vermittlerin Gespräche wieder möglich zu machen und dafür Plattformen zu schaffen.

Letzten Juli fand in Vilnius die 4. Ukraine Reform-Konferenz statt. Ziel dieser internationalen Konferenzen war es, die Ukraine in den Bereichen Demokratisierung, Dezentralisierung und Modernisierung zu unterstützen. Die von der Ukraine und der Schweiz organisierte 5. Konferenz wird Anfang Juli in Lugano in der Schweiz stattfinden. Diesmal als Recovery-Konferenz.

Denn wenn der Krieg vorbei ist und die Waffen wieder schweigen, geht es um den Wiederaufbau.

Der Weg zum Wiederaufbau und zur Regelung der wirtschaftlichen Kriegsfolgen führt über einen breit abgestützten politischen und diplomatischen Prozess. Über dieses komplexe System des Wiederaufbaus wird sich die Konferenz in Lugano mit allen Hauptakteuren ein erstes Mal austauschen. Sie soll auf internationaler Ebene den Startschuss für den Wiederaufbauprozess der Ukraine darstellen. Vergangene Woche wurden 40 Länder und 18 internationale Organisationen zu dieser hochrangigen Konferenz eingeladen. Und die Schweiz bietet an, bei Folgeschritten erneut Gastgeberin zu sein. Auch wenn das Kriegsende heute noch nicht absehbar ist, wäre es unverzeihlich, mit ersten Überlegungen zur Organisation, zur Rolle nationaler und internationaler Institutionen und zur Methode zuzuwarten und so wertvolle Zeit zu verlieren.
 
Ich freue mich sehr, dass die Konferenz in meinem Heimatkanton Tessin stattfinden wird.


FOKUSSIERTER MULTILATERALISMUS

Krieg ist Instabilität per se. Und dieser Krieg ist von einer Zerstörungskraft getrieben, die nicht nur die geopolitische Sicherheitsarchitektur erschüttert, sondern auch andere Prinzipien der Zivilisation sprengt. Er bricht mit tragenden Pfeilern der alten Ordnung. Vor diesem Bühnenbild stellen sich natürlich gerade an einem Weltwirtschaftsforum weitere Fragen. Was bedeutet das Risiko zunehmender Polarisierung für die globalen Märkte, für die Volkswirtschaften, für den Wohlstand?

Lassen sie mich für Ihre Forumsdiskussionen drei grob geschnitzte Szenarien skizzieren:
Das erste Szenario ist eine sektorielle Globalisierung. Die Bildung von Blöcken führt zu einer Entkoppelung der Wirtschaftsräume mit regional geschlossenen Kreisläufen. Ein Modell mit enormen Risiken: Polarisierung, zugespitzte Machtpolitik, kalte Handelskriege, erodierende Weltregeln, blockierter Austausch und in der Folge breit gestreute Wohlstandsverluste.
Das Szenario zwei ist ein dosiertes Zurückschrauben der «Hyperglobalisierung». Und damit verbunden eine kalkulierte Renationalisierung systemkritischer Ressourcen, Wertschöpfungsketten und Produktionsprozesse. Also eine Reduktion von Abhängigkeiten, Risiken und Lieferanten. Allerdings zum Preis der Verteuerung der Produkte, weil durch die gezielte Rückführung eben auch Effizienzeffekte wegfallen. Stufe zwei könnte eine Übergangslösung sein.
Das dritte Szenario ist die Stärkung eines fokussierteren Multilateralismus, für mich der «way to go».  Die gezielte Stärkung des Multilateralismus und die Rückbesinnung auf die Kernaufgaben ist und bleibt das Instrument, um das Kap der gefährdeten Hoffnungen zu umgehen. Der

Multilateralismus muss seine Kräfte schwergewichtig auf die grossen Fragen konzentrieren, die isoliert gar nicht lösbar sind:


•    Fragen wie Klima, Pandemien oder extreme Armut;
•    Fragen wie Weltwirtschaftskrisen, Handelsblockaden oder Energieversorgung
•    Fragen wie Kriegsgefahren oder Massenmigration


Auf die Dynamik unserer Zeit kann man nicht statisch reagieren. Denken wir also dezidiert nach über eine Fokussierung der Regeln und Institutionen auf die drängendsten geopolitischen Risiken. Die bestehenden multilateralen Institutionen decken diese Themen zwar ab (etwa die UNO oder die Bretton-Woods-Institutionen). Aber sie sind immer wieder durch Interessengegensätze blockiert - Risikotendenz steigend. Und weil auf den zentralen Feldern zeitgemässes und entschiedenes multilaterales Handeln ein Imperativ ist, braucht es Regeln und Reformen, die eine gut eingespielte und verbindlich akzeptierte politische Koordination auf der Höhe der neuen Herausforderungen sicherstellen.
Drei Szenarien, ein Denkgerüst. Vielleicht führen Ihre Diskussionen in andere Richtungen. Das ist nicht der entscheidende Punkt. Der entscheidende Punkt ist, dass es solche Diskussionen gibt: ohne zu moralisieren und mit Einbezug vieler Meinungen. Lösungen entstehen nicht im Silo von Standpunkten. Sie entstehen im offenen Gespräch. Denn Gespräche sind der Rohstoff neuer Lösungen. Darum geht es - auch hier in Davos.

Ich danke Ihnen und wünsche Ihnen animierte und erfolgreiche Diskussionen.


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