Inestäche, umeschlah, dürezieh und abelah

Bern, 11.05.2022 - Grusswort Bundesrätin Sommaruga, Verleihung Prix Cornichon, 11. Mai 2022

Es gilt das gesprochene Wort

 

Geschätzte Vertreterinnen und Vertreter der Behörden und von der Kultur

Geschätztes Publikum

Einige von Ihnen erinnern sich bestimmt: das erste Cornichon ging an eine Frau. Elsie Attenhofer erhielt 1988 den ersten Cornichon-Preis. Ich kann das historisch noch ein wenig einordnen: 1988, das war ein Jahr bevor Appenzell Ausserrhoden mit knappem Mehr das Frauenstimmrecht eingeführt hat. Also ein mutiger Entscheid der Cornichon-Jury.

Falls Sie sich fragen, wofür damals eine Frau diesen Preis erhalten hat? Ich habe die Erklärung: Sie konnte gut lismen - also „stricken“.

Im Ernst. In einem ihrer berühmtesten Stücke hat Elsie Attenhofer als Sekretärin das Telefon der Europäischen Union bedient – und hat Militär-Socken gelismet.

Sie unterhielt sich mit vielen Staatschefs. Zum Beispiel mit Ronald Reagan; der barfuss nach Moskau ging, damit ihm niemand etwas in die Schuhe schieben kann.

Elsie Attenhofer hat im Ensemble des Cabaret Cornichon gespielt. Die Karriere des «Cornichons» begann einige Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg. Wer damals und im Zweiten Weltkrieg auf die Bühne ging und Klartext sprach, brauchte Zivilcourage.

Damals aufzutreten, war nicht ungefährlich. Im Publikum sassen nämlich nicht nur die eigenen Freunde, sondern auch die Ohren von Hitler.

Elsie Attenhofer beherrschte die Kunst, die Menschen zum Lachen und gleichzeitig zum Nachdenken zu bringen.

Das hat sie nicht nur auf die Liste der Cornichon-Preisträgerinnen gebracht, sondern auch auf die der Gestapo. Viele ihrer Kolleginnen und Kollegen standen ebenfalls auf der Liste.

Und zwar einfach darum, weil sie den Mut und die Gabe hatten, die Propaganda zu entlarven. Sie konnten hinter Kulissen und Fassaden schauen und sie haben, was sie da gesehen haben, auf der Bühne erzählt: mal doppelbödig, mal ironisch, mal kreativ verpackt.

Damals, im Krieg, haben sie ihrem Publikum Missstände und menschliche Abgründe aufgezeigt. Ihre manchmal träfen Weisheiten hatten Nachhall, lösten Widerspruch aus und weckten Widerstand.

Auch Elsie Attenhofer. Sie hat ihre künstlerischen Talente eingesetzt, um Freude zu machen, aber auch, um aufzubegehren gegen ein totalitäres Regime.

Als Sekretärin der Europa-Union hat Elsie Attenhofer auch mit den Präsidenten Gorbatschov und Reagan gesprochen; sie waren damals in Genf an einer Gipfelkonferenz – oder wie Elsie Attenhofer ins Französische übersetzte: Einer «Conférence d’une platitüde suprème».

Elsie Attenhofer wusste aus ihrer Erfahrung als Sekretärin der Europa-Union auch, dass gewisse Staatschefs erwarten, dass sich andere extra klein machen, damit sie sich selber gross fühlen können.

Sie hat sich darum am Telefon auch mal so gemeldet: «Äi äm se lausiest sekretäry of se moust miseräble Juropiän Junion».

Das waren Geschichten aus dem kalten Krieg. Heute ist wieder Krieg in Europa.

Ich habe letzte Woche den russischen Friedensnobelpreisträger Dmitry Muratov getroffen, er ist Chefredaktor der Nowaja Gaseta. Das war alles andere als eine «Conférence d’une platitude suprème».

Eher eine « Conférence d’une vérité bouleversante ».

Als in seinem Land im Februar das Wort «Krieg» zensuriert wurde, setzte Dmitry Muratov in grossen Lettern das Wort «Frieden» auf die Frontseite seiner Zeitung. Und darunter die Zeichnung eines russischen Bären, der auf der Welt rumtanzt. Frieden wurde schliesslich nicht zensuriert.

Aber die „Nowaja Gaseta“ erscheint jetzt nicht mehr. Auch das kann Zivilcourage bedeuten.

Und dennoch braucht es sie, die Zivilcourage.

Und es braucht dazu Sie, geschätzte Kulturschaffende.

Auch wenn Sie Kleinkunst betreiben: Sie dürfen sich ruhig gross machen. Helfen Sie, leere Worte und Propaganda zu durchschauen.

Machen Sie mit Worten, was Elsie Attenhofer auch mit ihren Lismer-Nadeln getan hat: Suchen Sie den wunden Punkt und dann - Inestäche, umeschlah, dürezieh und abelah.

Liebe Kunstschaffende,

wir Bundesrätinnen und Bundesräte wissen: “Rire c’est bon pour la santé.“ Aber eigentlich sind wir nicht vom komischen Fach, oder zumindest nicht freiwillig.

Immerhin liefern wir Ihnen ab und zu besten Stoff für beste Unterhaltung. Das ist sozusagen unser Service public für die heimische Kabarett-Szene.

Die Kulturschaffenden haben uns allen übrigens gefehlt - schrecklich gefehlt in den zwei Jahren Pandemie.

Eines davon habe ich als Bundespräsidentin erlebt. Dannwollte ich meinem Nachfolger Guy Parmelin ein symbolisches Geschenk übergeben. Ich wusste, dass er gerne Asterix liest. Also nahm ich «Asterix bei den Schweizern» zur Hand. Und wie heisst der Statthalter, der am Anfang der Geschichte vorkommt: «Agrippus Virus.»

Also habe ich Guy ein Apfelbäumchen übergeben. Dabei profitierte ich von den Errungenschaften der Gleichstellung ((des Feminismus)): 2021 Jahre nach Christus darf eine Frau einem Mann einen Apfel reichen, ohne dass es gleich zum Sündenfall kommt.

Geschätzte Anwesende,

ich freue mich auf diesen Abend und ich danke den Kulturschaffenden von Herzen, dass sie widerborstig sind, und dass sie uns auf ihre Art den Irrsinn dieser Welt aufzeigen und zwar so, dass wir nachdenken und lachen können. Gut, dass es Sie gibt.

 


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