Protonentherapie: Eine Erfolgsgeschichte, die vor 25 Jahren begann

Villigen, 25.11.2021 - Am 25. November 1996 behandelte das Zentrum für Protonentherapie am Paul Scherrer Institut PSI das erste Mal einen Krebspatienten mit der sogenannten Spot-Scanning-Technik – eine weltweite Premiere. Diese am PSI entwickelte Art der Bestrahlung rastert tief liegende Tumore mit einem bleistiftdünnen Strahl geladener Teilchen ab. So werden die Krebszellen zielgenau getötet, umliegendes gesundes Gewebe aber geschont. Inzwischen hat sich die Technik weltweit etabliert, und alleine am PSI wurden seit 1996 etwa 2000 Krebspatienten und ‑patientinnen damit bestrahlt, über ein Drittel davon Kinder und Jugendliche. Dass die Erfolgsgeschichte ausgerechnet am PSI begann, ist kein Zufall.

Es war ein Montag, und das Team am Zentrum für Protonentherapie hatte sich im Kontrollraum versammelt. «Wir standen dicht gedrängt und schauten gebannt auf den Monitor, der den Behandlungsraum zeigte», erinnert sich Martin Grossmann, damals wie heute Physiker am Zentrum für Protonentherapie (ZPT) des PSI. In den 1990er-Jahren entwickelte er als Teil eines 15-köpfigen Teams unter Leitung von Hans Blattmann, Eros Pedroni und Gudrun Goitein eine neue Technik, um Krebspatienten heilen zu können: das Spot Scanning, auch Pencil Beam Scanning genannt.

Am 25. November 1996 war es dann so weit: Zum ersten Mal lag ein Mensch auf der Patientenliege im Behandlungsraum. Der 62-jährige Mann aus dem Kanton Luzern hatte einen bösartigen Hautkrebs, der bereits Tochtergeschwülste im Gehirn gebildet hatte. Diese Hirnmetastasen sollten mithilfe der neuen Technik bestrahlt werden.

Das Team war nervös – trotz ausgezeichneter Vorbereitung. «Man kann so viele Plastikpuppen und Wasserbäder behandeln, wie man will, aber wenn dann da ein echter Patient liegt, ist das eine ganz andere Erfahrung», sagt Medizinphysiker Tony Lomax, Teil des Entwicklungsteams. Er half an dem besagten Montag dabei, den Patienten richtig zu positionieren, damit die Protonenstrahlen auch genau das Körperareal trafen, das bestrahlt werden sollte. Denn es kommt auf Millimeter an: «Ein Protonenstrahl ist wie ein scharfes Werkzeug», betont Martin Grossmann. «Man darf keinen Fehler machen.»

Grosser Erfolg

Das Spezialistenteam stellte sicher, dass die Technik reibungslos funktionierte. Und schliesslich konnten an jenem 25. November alle aufatmen: Die Bestrahlung verlief ganz nach Plan – wie Martin Grossmann und Tony Lomax es erwartet hatten. «Wir waren felsenfest davon überzeugt, dass wir die Technik im Griff haben. Wir haben grossen Aufwand betrieben, um alles hundertprozentig sicher für die Patienten zu machen», sagt Grossmann.

Schon im nächsten Jahr behandelte das Zentrum für Protonentherapie erfolgreich mehrere weitere Patienten. Die Fachwelt war zunächst skeptisch – zu unbeherrschbar erschien die Technik damals. Über zehn Jahre lang, bis zum Jahr 2008, war das Paul Scherrer Institut die einzige Institution, die dieses Verfahren anwendete. Inzwischen aber hat sich die Technik des Spot Scannings über die ganze Welt verbreitet und gilt als bevorzugte Methode der Protonentherapie.

Den Tumor ausradieren

«Die Protonentherapie hat den Kampf gegen den Krebs von Grund auf verändert», sagt Damien Weber, Chefarzt und Leiter des ZPT. Bei der Protonentherapie tötet ein Protonenstrahl – also ein gebündelter Strahl schneller, geladener Teilchen – die Tumorzellen ab, indem er in ihnen die Erbsubstanz DNA zerstört. Das macht auch die klassische Strahlentherapie, die bei Krebs typischerweise angewendet wird und die Zellen mit Röntgenstrahlen malträtiert.

Protonen haben aber einen grossen Vorteil gegenüber energiereicher Strahlung, erklärt Weber: Mit ihnen lässt sich sehr genau festlegen, wo im Körper sie ihre zerstörerische Wirkung entfalten. «Strahlungsbedingte Nebenwirkungen sind so viel seltener. Daher eignet sich die Methode vor allem für Kinder, aber auch für Tumore an schwer zugänglichen oder besonders empfindlichen Stellen im Körper.» Dazu gehören etwa Tumore im Kopfbereich oder in der Nähe der Wirbelsäule.

Lange Zeit setzte die Ärzteschaft bei der Protonentherapie das sogenannte Scattering-Verfahren ein. Hierbei wird der Protonenstrahl aufgefächert und über Metallblenden, die für jeden Tumor individuell angefertigt werden, so gefiltert, dass er nur die befallene Stelle des Körpers trifft. Für Augentumore ist dieses Verfahren auch heute noch die Methode der Wahl. Nicht so für tiefer liegende Geschwülste.

«Wir wussten stets, dass die Spot-Scanning-Technik hier viele Vorteile bringen würde», sagt Tony Lomax. Das befallene Gewebe wird dabei mit dem Protonenstrahl abgerastert – «als würde man sie mit einem Bleistift nachzeichnen», sagt Lomax. Oder vielmehr mit einem Radierer ausradieren. Die Lage des Tumors wird dazu zuvor mit bildgebenden Verfahren wie der Computertomografie und der Magnetresonanztomografie erfasst und der Protonenstrahl so programmiert, dass genau die richtige Menge geladener Teilchen auf die gewünschten Stellen trifft.

Standortvorteil PSI

Wer einmal hinter die Kulissen des Zentrums für Protonentherapie schaut, versteht, warum diese Technik nur am PSI entwickelt werden konnte und zum Beispiel nicht in einem Spital. Der Bestrahlungsapparat alleine, Gantry genannt, hat die Grösse eines Lastwagens; um die Protonenstrahlen zu erzeugen und zur Gantry zu lenken, braucht es nochmal grössere und komplizierte Apparaturen.

«Was wir hier machen, ist angewandte Beschleunigerphysik», sagt Martin Grossmann. «Wir brauchen Messgeräte, die den Verlauf des Strahls kontrollieren. Wir brauchen schnelle Elektronik, die die Magneten dafür steuern. Und vor allem brauchten wir damals das Fachpersonal, um eine solche Maschine zu bauen. Das findet man nicht in einem Spital.»

Die Idee für das Spot Scanning entstand ursprünglich in Japan. «Aber unser Team hier war damals mutig genug zu sagen: Wir wenden das jetzt auch wirklich an», sagt Grossmann. Und das sehr erfolgreich zugunsten der Patientinnen und Patienten – seit jetzt 25 Jahren.

Text: Paul Scherrer Institut/Brigitte Osterath

 

Über das PSI
Das Paul Scherrer Institut PSI entwickelt, baut und betreibt grosse und komplexe Forschungsanlagen und stellt sie der nationalen und internationalen Forschungsgemeinde zur Verfügung. Eigene Forschungsschwerpunkte sind Materie und Material, Energie und Umwelt sowie Mensch und Gesundheit. Die Ausbildung von jungen Menschen ist ein zentrales Anliegen des PSI. Deshalb sind etwa ein Viertel unserer Mitarbeitenden Postdoktorierende, Doktorierende oder Lernende. Insgesamt beschäftigt das PSI 2100 Mitarbeitende, das damit das grösste Forschungsinstitut der Schweiz ist. Das Jahresbudget beträgt rund CHF 400 Mio. Das PSI ist Teil des ETH-Bereichs, dem auch die ETH Zürich und die ETH Lausanne angehören sowie die Forschungsinstitute Eawag, Empa und WSL.


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