Wir brauchen Sie!

Bern, 20.11.2021 - Rede von Bundesrätin Simonetta Sommaruga anlässlich des ETH-Tages (Dies Academicus) in Zürich

(Es gilt das gesprochene Wort.) 

Monsieur le Président
Frau Rektorin
Sehr geehrte Damen und Herren Professoren, Forscher, Studierende und Doktorierende
Geschätzte Damen und Herren


Ich weiss gar nicht, ob Sie sich bewusst sind, wie sehr wir Sie brauchen. 

Wiewichtig Ihre  Art zu arbeiten ist: Sie wollen die Welt verstehen. Sie suchen. Sie lernen, Sie wagen, das Unvorstellbare zu denken.

Sie hören nicht auf zu zweifeln. Sie machen einen Schritt zurück und beginnen wieder von vorne. Und Sie teilen Ihr Wissen mit uns.

Ich war letzte Woche in Glasgow, und ich bin heute noch mehr überzeugt von der entscheidenden Rolle, die Sie spielen.

Eine Wissenschaftlerin war übrigens auch in unserer Delegation, und sie konnte unsere Verhandler mit   zentralen Informationen unterstützen.

Die Entscheidungen in Glasgow gehen in die gute Richtung, aber sie gehen klar zuwenig weit.

Vor allem nachdem Indien und China, im letzten Moment eine Abschwächung des Textes verlangten - und auch bekamen.

Nicht der Ausstieg aus der Kohle und aus den Subventionen für Öl und Gas solle angestrebt werden, sondern nur deren Reduktion. 

Ich hatte mich im Namen einer Ländergruppe beim Präsidenten der COP beschwert über dieses intransparente und inakzeptable Machtspiel.

Gleichzeitig konnten auch wir nicht ausschliessen, dass die beiden Staaten nur darauf warteten, die ganze Schlusserklärung platzen zu lassen. Also musste man diese Kröte schlucken, auch wenn sie schwer verdaulich ist. 

Und trotz der Abschwächung muss man sagen: Dass der Abbau von Kohle und von Subventionen für Fossile überhaupt in den Text aufgenommen wurde, ist wichtig.  

Das ist das erste Mal an einer COP. Es ist ein deutliches Signal an die Märkte: fossile Energien sind im Abwärtstrend - jetzt gilt es, Fehlinvestitionen zu vermeiden und die Dekarbonisierung voranzutreiben.  

Wer nicht mitmacht, verliert. 

In dieser Phase sind wir jetzt also. Und in dieser entscheidenden Phase brauchen wir Sie ganz besonders. Deshalb meine
Bitte an Sie alle: Ruhen Sie sich nicht aus auf den Lorbeeren, die Sie heute erhalten. 

Wir brauchen Ihre Ideen, die Start-ups, die aus Ihrem Ökosystem entstehen. Wir brauchen die klugen Köpfe, die in unserem Land und weltweit aufzeigen, wie die Dekarbonisierung gelingt.  

Und zwar so gelingt, dass auch die Bevölkerung etwas davon hat, dass wir Arbeitsplätze in der Schweiz sichern, dass wir unsere Innovationen exportieren können. 

Dass wir gemeinsam nach vorn schauen können und wissen, dass diese Transformation zu schaffen ist.  

Und dass unser Land ganz vorne mit dabei ist. 

Ich erinnere mich an meine Reise nach Kalifornien im letzten Sommer. Es war eine virtuelle Reise - der erste virtuelle Arbeitsbesuch einer Bundesrätin. Eine Ihrer Professorinnen war übrigens auch dabei.  

Wir haben mit Kalifornien einige Gemeinsamkeiten.  

Wir sind beide in der Forschung so ziemlich an der Spitze.  

Beide Staaten  sind direkte Demokratien.  

Das heisst: Wir wissen, was eine Volksabstimmung ist, und wir wissen wie es sich anfühlt, wenn die Bevölkerung bei einer Abstimmung der Regierung und dem Parlament die „kalte Schulter zeigt". 

Weder in Kalifornien noch in der Schweiz legt man deswegen die Hände in den Schoss.  

Man nimmt vielmehr nochmals einen Anlauf - hört auf die Bevölkerung und geht vorwärts - Schritt für Schritt. 

Die Vize-Gouverneurin von Kalifornien sagte über ihr Land und über diesen kalifornischen Geist: «We have a very we can attitude». 

Diese «we can attitude» haben Sie auch. Und Sie können gerne dafür sorgen, dass sich dieser Geist in unserem Land noch etwas stärker verbreitet. 

Gerade wenn es ums Klima geht, höre ich - für meinen Geschmack etwas zu häufig: «Äs isch haut schwierig.»

Dabei haben wir doch guten Grund, uns mit einer „we-can-attitude" an die Arbeit zu machen. 

Schauen wir doch das Beispiel der Windenergie an.  

Man hat den Eindruck, bei uns sei die ganze Bevölkerung gegen die Windenergie.  

Wenn man aber genau hinschaut, was die Bevölkerung tatsächlich sagt, wenn man sie fragt, sieht das Ganze ziemlich anders aus:  

Von den 24 Windenergie-Projekten, die man der lokalen Bevölkerung in einer Abstimmung unterbreitet hat, wurden 19 angenommen.  

Vorwärts machen mit dem Umbau 

Es gibt Leute, die behaupten, der massive Ausbau der erneuerbaren Energien in unserem Land sei eine Träumerei oder ein Blick durch die rosa Brille - oder noch schlimmer: durch die «rote Brille»... 

Dem halte ich ganz klar entgegen: 

Ich bin - seit ich in der Politik bin - eine Realo-Politikerin. 

Ich bin mir sehr bewusst, dass die Herausforderungen, die uns erwarten, gigantisch sind. 

Ich weiss, dass die Phase, in der wir jetzt leben, von entscheidender Bedeutung ist, und dass gerade dieses Jahrzehnt zwischen 2020 und 2030 darüber entscheiden wird, ob wir die Klimaziele im Jahr 2050 erreichen können oder nicht. 

Unsere Gesellschaft muss sich von den fossilen Energieträgern verabschieden.  

Von jenen Treibern, die seit der Industrialisierung für Fortschritt und Wohlstand gesorgt haben - gleichzeitig aber auch Ursache sind für die Erderwärmung. 

Wir stehen mitten in der wohl grössten und tiefgreifendsten Veränderung dieses Jahrhunderts. 

Die Dekarbonisierung verändert nicht nur unsere Arbeit, unsere Berufe, unsere Unternehmen, sondern auch unseren ganz persönlichen Alltag.

Die Auswirkungen sind nicht nur technischer Natur, sondern auch ökonomisch, politisch und sozial. 

Da ist es nicht erstaunlich, dass eine solche kolossale Veränderung auch Ängste auslöst, dass das die Menschen destabilisiert.  

Vor allem, weil wir auch aus dieser Pandemie noch nicht raus sind. 

Nicht erstaunlich, dass es Widerstände gibt, Zweifel und Abwehr. Und dann kommen noch die Interessen hinzu, die Interessen all jener, die durch die Dekarbonisierung etwas - respektive: viel zu verlieren haben;  ökonomisch natürlich, aber auch macht- und geopolitisch zu verlieren haben.  

Denn Energiepolitik ist immer auch Geopolitik. 

Erdölstaaten und Erdölfirmen wollen ihren Rohstoff noch so lange wie möglich verkaufen - und deshalb tun sie alles dafür, damit die Entwicklung von Energieträgern, die ohne ihre Rohstoffe auskommen, so langsam wie möglich vorwärts kommt. 

Und doch ist es unübersehbar.  

Das Ende der Fossilen ist unaufhaltsam.  

Und deshalb stellt sich Frage:  

Wieschafft man es, die Dekarbonisierung zu nutzen?  

Wer hat rechtzeitig die Technologien und die neuen Geschäftsmodelle parat?

Wer sichert sich rechtzeitig die kompetenten Arbeitskräfte und damit auch die Arbeitsplätze der Zukunft? 

Und: Wie verhindern wir jetzt Fehlinvestitionen? 

Wer heute in seinem Haus eine neue Öl-Heizung installiert, riskiert, in 10, 15 Jahren einen Wertverlust für seine Liegenschaft - abgesehen von den höheren Kosten für den Betrieb.

Wer heute Liegenschaften ohne Ladestationen für Elektro-Autos baut, riskiert, schon in wenigen Jahren kaum mehr Mieter zu finden.

Banken, Versicherer oder Pensionskassen, die ihr Geld in Kohle, Öl und Gas anlegen, riskieren massive Verluste.

Gleichzeitig müssen wir für diese Transformation die Bevölkerung mitnehmen. Die Dekarbonisierung darf nicht auf dem Buckel der Menschen passieren. 

Das gilt für die Schweiz - mit unserer direkten Demokratie - ganz besonders. Und das ist gut so!

Wir haben die Stimme einer Mehrheit der Bevölkerung gehört, als wir im letzten Juni über das CO2-Gesetz abgestimmt haben.

Und auch wenn die Mehrheit noch so knapp war - wir müssen die richtigen Lehren daraus ziehen.

Wenn sich die Menschen bestraft oder drangsaliert fühlen - sei es als Autofahrerinnen, als Mieter oder als Weltenbummler - dann wehren sie sich. 

Klimaschutz stärken

Gleichzeitig ist der Bundesrat überzeugt: Das Nein zum CO2-Gesetz war kein Nein zum Klimaschutz, sondern zu einzelnen Massnahmen in diesem Gesetz. 

Deshalb habe ich das Dossier sehr schnell wieder aufgenommen.

Vor allem weil die Zeit knapp ist. Wir können uns keine weitere Verzögerung erlauben.

Ich habe deshalb über den Sommer das Gespräch gesucht - von AutoSchweiz bis zu den Umweltorganisationen.

Und nur drei Monate nach der Abstimmung habe ich dem Bundesrat einen neuen Plan unterbreitet.

Anstatt zu bestrafen, sieht mein neuer Plan vor, die Menschen bei dieser Transformation zu unterstützen und die vorhandenen Mittel gezielter einzusetzen.

Ich gebe Ihnen dazu zwei Beispiele: 

  • Mit den Einnahmen aus der CO2-Abgabe auf Brennstoffen, die es ja bereits gibt, sollen jene Menschen gezielter unterstützt werden, wenn sie ihre Ölheizung ersetzen. 
  • Und anstatt Dieselbusse zu subventionieren - (ja, das ist heute tatsächlich so) - setzen  wir dieses Geld lieber für die Elektrifizierung der Busse im öffentlichen Verkehr ein.  

Stromsicherheit 

Die Dekarbonisierung führt dazu, dass Gesellschaft und Wirtschaft elektrifiziert werden.

Das bedeutet: Es braucht in Zukunft mehr Strom. 

Und das bedeutet auch, dass die Stromversorgung in unserem Land gesichert werden muss.  

Vor allem wenn man sich vor Augen führt, dass die Nuklearanlagen in der Schweiz dereinst abgestellt werden, auch wenn es dafür - im Unterschied zu Deutschland - in der Schweiz keine verbindliche Frist gibt.

Die sichere Stromversorgung ist deshalb eine zentrale Voraussetzung für die energetische Transition.

Als Umwelt- UND Energieministerin habe ich deshalb zwei Aufgaben GLEICHZEITIG zu lösen: den CO2-Ausstoss zu reduzieren UND für eine sichere Versorgung mit Strom aus erneuerbaren Energien zu sorgen. 

Ausbau der erneuerbaren Energien beschleunigen 

Als ich das Umwelt- und Energiedepartement übernahm, war für mich sehr rasch klar: Der Ausbau der erneuerbaren Energien in unserem Land genügt nicht, genügt bei weitem nicht.  

Unsere Stromwirtschaft hat in den letzten 10 Jahren zwar massiv in erneuerbare Energien investiert - aber vor allem im Ausland.

Man hat sich auf den Import verlassen, obwohl klar war, dass auch die Nachbarstaaten den Strom zunehmend für ihre eigene Dekarbonisierung brauchen. Der Markt allein kann die Versorgungssicherheit nicht gewährleisten. 

Deshalb müssen wir in unserem Land rasch für Klarheit sorgen und Investitionssicherheit schaffen. 

Es war eines der ersten Gesetze, das ich als neue UVEK-Vorsteherin in den Bundesrat brachte:  die Förderung der erneuerbaren Energien in der Schweiz soll fortgesetzt und verstärkt werden.  

Und mit Pflichtlagern für Strom sowie einem sog. Winterzuschlag soll die allenfalls heikle Versorgungssituation Ende Winter aufgefangen werden. 

Mit einer «we can attitude» können wir hier sehr rasch vorwärts kommen.  

Und wenn dieser Schritt nicht genügt, dann machen wir noch weitere. Das ist aber kein Grund, jetzt nicht zu beginnen.

Das Gesetz ist jetzt im Parlament. Ich hoffe, dass man den Ernst der Lage erkennt und das Gesetz nicht verzögert.

Von der Energiewirtschaft höre ich, dass Anlagen in der Schweiz nicht rentieren.  

Meine Damen und Herren, seit wann investieren wir in die Sicherheit nur, wenn es rentiert? 

Dann gäbe es in unserem Land keine Polizei und auch keine Verkehrssicherheitsmassnahmen auf der Strasse. 

Die Stromversorgungssicherheit ist eine der zentralsten Sicherheiten, die unser Land braucht. 

Sicherheit ist nie gratis.  

Das gilt auch für die Sicherheit in der Stromversorgung. Immerhin gehört der grösste Teil unserer Energiewirtschaft den Kantonen und Gemeinden, also der öffentlichen Hand. Es sind jetzt also alle gefordert - auch die Eigner der Stromwirtschaft -, für diese Sicherheit zu sorgen.

Zusammenarbeit mit Europa

Sie, meine Damen und Herren, haben aber auch noch ganz andere Sorgen. Und der Bundesrat ist sich dessen sehr wohl bewusst.

Unser Verhältnis zu Europa ist für Sie entscheidend. Es geht hier auch um eine Art «Sicherheit». 

Um die Sicherheit, auch weiterhin gemeinsame Projekte mit den europäischen Spitzenforschern realisieren zu können.  

Die Sicherheit, dass die Mobilität zwischen den verschiedenen Hochschulen und Forschungszentren Europas auch in Zukunft gewährleistet ist. 

Wir sind uns bewusst, dass es dabei auch, aber nicht nur um Geld geht, sondern auch um das Netzwerk, ohne welches Forschung und Innovation in unserem Land unter Druck kommen. 

Die Hochschulen, also Sie meine Damen und Herren, lassen ihre Stimme vernehmen. Und das ist wichtig.  

Unser Land kommt nicht darum herum, die Beziehungen mit der EU zu klären, die Beziehungen zu stärken und unsere gemeinsamen Anliegen auf eine solide Basis zu stellen.

Es ist wichtig, dass Sie mit den politischen Kräften und mit der Gesellschaft in einem konstanten Austausch sind und Ihre Anliegen einbringen.

Die Wissenschaft war während der Pandemie eine zentrale Grundlage für die politischen Entscheide, und Ihre Stimme kann auch in der Klimapolitik viel bewegen.

Ich werde deshalb die Zusammenarbeit mit der Wissenschaft gerade in diesem Bereich verstärken. 

Mein Departement hat der ProClim soeben das Mandat erteilt, aufzuzeigen, wie eine nachhaltige und klimaneutrale Schweiz im Jahr 2050 aussieht.

Die Menschen müssen sich vorstellen können, wie wir leben, wenn wir ohne Öl heizen, ohne Benzin fahren und ohne Kerosin fliegen. 

Ich bin sehr dankbar, dass wir uns auch hier auf Ihre wissenschaftlichen Grundlagen stützen können, denn nur so kann diese Transformation gelingen.

Wir brauchen Sie!

Wie wichtig, sinnvoll und matchentscheidend eine konkrete Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft, Politik und Bevölkerung sein kann, habe ich letztes Jahr als Bundespräsidentin selber hautnah erlebt.

Ich wollte im letzten Jahr der Ukraine einen Präsidialbesuch abstatten. Aus Pandemiegründen musste ich die Reise vom Frühling in den Sommer verschieben.  

Als ich mit Präsident Selenski am Telefon unsere epidemiologische Situation besprach, berichtete er mir, dass sein Land dringend Beatmungsgeräte brauche. 

Ihr Präsident, Herr Joel Mesot erfuhr von diesem Problem.  

Die ETH entwickelte den Prototyp eines günstigen Beatmungsgerätes, das in der Ukraine hergestellt werden konnte. 

Als ich im Sommer in die Ukraine reiste, präsentierte mir Ihr Präsident, der uns auf dieser Reise begleitete, die in der Ukraine gefertigten Beatmungsgeräte, die vielen Menschen das Leben gerettet haben.

Ich weiss, dass es nicht immer so rasch und so einfach geht.  

Trotzdem: Dieses Beispiel zeigt, was möglich ist, wenn Wissenschaft, Politik und Bevölkerung im Austausch sind.

Das gilt nicht nur für den Gesundheitsbereich, sondern auch für die Zukunft der Energie und des Klimaschutzes.

Die Gesellschaft braucht Sie, sehr geehrte Damen und Herren, Vertreterinnen und Vertreter der Wissenschaft.

Wir brauchen nicht nur Ihre Antworten, Ihre Lösungen und Ihre Fragestellungen; wir brauchen auch Ihre «we have a very we can attitude».

Ich überbringe Ihnen die besten Wünsche des Bundesrates und freue mich auf eine weitere gute, fruchtbare und erfolgreiche Zusammenarbeit!


Adresse für Rückfragen

Kommunikation UVEK, Tel. +41 58 462 55 11



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