Referat von Bundesrätin Viola Amherd: «Schweizer Sicherheitspolitik: Dialog und Prioritäten»

Bern, 22.03.2021 - Referat von Bundesrätin Viola Amherd, Chefin des Eidgenössischen Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) bei der parlamentarischen Gruppe Sicherheitspolitik, Mittwoch, 17. März 2021.

Es gilt das gesprochene Wort

Sehr geehrte Damen und Herren National-
und Ständerätinnen und -räte,
sehr geehrte Mitglieder der parlamentarischen
Gruppe für Sicherheitspolitik

Sie haben mich zur Gründungsveranstaltung Ihrer Gruppe eingeladen für ein Referat zum Thema Sicherheitspolitik.

Es freut mich, heute bei Ihnen zu sein, auch wenn es halt nur virtuell ist.
Vor wenigen Wochen fand – ebenfalls nur virtuell – die Münchner Sicherheitskonferenz statt.

Der neue US-Präsident Joe Biden sagte dort, dass es in der heutigen Zeit nötiger denn je sei, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit entschieden zu verteidigen, denn beides sei nicht «einfach da» und eine Selbstverständlichkeit.

Man kann ihm nur beipflichten. Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Einhaltung von Völkerrecht bilden das Fundament von liberalen Gesellschaften wie der unseren.

Zum Fundament unserer Gesellschaften gehört auch Sicherheit. Sie ist ebenfalls nicht «einfach da» und selbstverständlich, und hatte schon bessere Zeiten.

Wir müssen der Sicherheit und der Sicherheitspolitik grössere Beachtung schenken, gerade in Zeiten, die instabiler und unberechenbarer geworden sind.

Die Welt ist unsicherer geworden. Neue Bedrohungen und Gefahren sind dazugekommen, ohne die früheren zu verdrängen.

Ereignisse weit weg von uns können unmittelbar Probleme in der Schweiz verursachen. Unser Umfeld ist weniger stabil als vor zehn oder gar zwanzig Jahren.

Es ist deshalb Zeit, das Thema Sicherheit dorthin zu bringen, wo es hingehört: nämlich weit oben auf die politische Agenda.

Deshalb begrüsse ich die Gründung Ihrer Gruppe. Es gibt zu vielen Themen parlamentarische Gruppen, aber für die Sicherheitspolitik fehlte das bislang. Sie können auf meine Unterstützung zählen.

Auch mir ist es ein Anliegen, den Dialog über Sicherheitspolitik und ihre Gestaltung zu verstärken. Nicht nur in der Politik, sondern darüber hinaus, in einer breiteren Öffentlichkeit.

Ich habe VBS-intern den Auftrag erteilt, die Diskussion und den Austausch über dieses Thema zu intensivieren und zu erweitern.

Es gibt Themen, beispielsweise aus der Sozial- und Gesundheitspolitik, die wohl näher sind an der Alltagsrealität der Menschen in der Schweiz.

Sicherheitspolitik scheint etwas weiter weg und wirkt oft etwas abstrakt, obwohl Sicherheit eine Voraussetzung für alles andere in unserer Gesellschaft ist, das uns wichtig ist.

Es muss uns deshalb gelingen, die Bedeutung von Sicherheitspolitik für das Wohlergehen unseres Landes und der Bevölkerung verständlich und überzeugend zu erläutern.

Das baldige Erscheinen des neuen Sicherheitspolitischen Berichts und dessen Vernehmlassung wird dazu eine gute Gelegenheit bieten, die wir nutzen wollen.

Die Gestaltung der Sicherheitspolitik in der Schweiz ist etwas besonders. Das hat mit Eigenheiten der Schweiz zu tun, die uns von anderen Ländern unterscheiden.

Es sind dies grundlegende Merkmale wie der Föderalismus und die Subsidiarität, das Milizprinzip und das Dienstpflichtsystem, die direkte Demokratie und die Konkordanz sowie unsere Neutralität.

Diese Elemente gehören zum Selbstverständnis der Schweiz und prägen die Art, wie man bei uns Sicherheitspolitik gestaltet.

Wir können keine Sicherheitspolitik ohne die Kantone gestalten, die primär für die innere Sicherheit zuständig sind. Wir können die Armee nicht reformieren, ohne Miliz und Dienstpflichtsystem Rechnung zu tragen.

Wir können Sicherheitspolitik nicht nur im VBS machen, sondern müssen das mit allen Departementen tun, die auch sicherheitspolitische Aufgaben haben. Denn bei uns ist Sicherheitspolitik eine Verbundaufgabe: Es gehören Aussen- und Wirtschaftspolitik, Polizei, Bevölkerungsschutz, Nachrichtendienst und Armee dazu.

Wir bauen die internationale Zusammenarbeit kontinuierlich aus, können aber keine Verpflichtungen zur gemeinsamen Verteidigung eingehen, ohne unsere Neutralität aufzugeben.

Wir haben keine Legislaturprogramme mit radikalen Sprüngen, sondern bauen auf Einbezug, Konkordanz und Kontinuität.
Unser System produziert wohl nicht die schnellsten Entscheide, sie sind aber solide und breit abgestützt.

Diese Eigenschaften sind für die einen eine Schwäche, für die anderen eine Stärke unseres Systems.

Wie auch immer: Wir haben kein anderes.

Klar ist, dass wir diese grundlegenden Merkmale unseres Systems in der Gestaltung der Sicherheitspolitik beachten müssen. Klar ist auch, dass wir sie im Verbund gestalten, und nicht Fachleute im Elfenbeinturm. Umso wichtiger ist es, breitere Kreise der Gesellschaft in Diskussion einzubeziehen.

Wir müssen aber auch akzeptieren, dass eine breite gesellschaftliche Diskussion über Sicherheitspolitik nicht unbedingt zu einem «nationalen» Konsens führt.

Wie wir die Bedrohungen wahrnehmen und gewichten und welche Antworten darauf für richtig halten, ist auch eine Frage der Weltanschauung. Für die einen ist der Klimawandel die grösste Gefahr, für andere sind es Terrorismus oder bewaffnete Konflikte. Die einen wollen stärker in Cybermittel investieren, andere in die Krisenprävention.

Diese Erkenntnis und der Respekt vor anderen Meinungen müssen auch Teil von unserem Selbstverständnis sein, wenn wir Sicherheitspolitik breit und intensiv diskutieren wollen.

Wie bereits erwähnt, laufen die Arbeiten für einen neuen Sicherheitspolitischen Bericht des Bundesrates. Dieser soll Anfang Mai vorliegen und dann in eine Vernehmlassung gehen.

Die Sicherheitspolitischen Berichte haben eine wichtige Rolle für die Gestaltung der Sicherheitspolitik. Sie legen aus Sicht des Bundesrates die Grundzüge und Stossrichtung der Schweizer Sicherheitspolitik für die kommenden Jahre fest.

Die Berichte dienen auch als Basis für weitere und detailliertere Grundlagendokumente zu einzelnen sicherheitspolitischen Bereichen oder Instrumenten.

Der kommende Bericht enthält eine umfassende Analyse des internationalen Umfelds, der sicherheitspolitischen Trends sowie der konkreten Bedrohungen und Gefahren für die Schweiz.

Es ist klar: Die Lage ist generell instabiler, unübersichtlicher und unberechenbarer geworden, weltweit, aber auch in Europa.

Spannungen und machtpolitisch motivierte Rivalitäten zwischen Gross- und Regionalmächten haben zugenommen, ebenso regionale Instabilitäten und das Risiko gewaltsamer Konflikte sowie von Eskalationen an den Rändern Europas.

Der Einsatz von sogenannten «hybriden» Mitteln zur Konfliktführung hat sich verstärkt, inklusive Cyberangriffen und Desinformationskampagnen.

Aber auch der Einsatz von konventionellen militärischen Mitteln bleibt eine Realität, wie sich etwa zuletzt im Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien gezeigt hat.

Gleichzeitig sind schon länger bestehende Bedrohungen wie der islamistische Terrorismus nicht verschwunden.

Der Klimawandel wird zu häufigeren und stärkeren Naturkatastrophen führen. Und zu allem hinzu ist nun noch eine Pandemie gekommen, die eine weltweite Krise ausgelöst hat.

Unsere Sicherheitspolitik muss sich auf dieses garstigere Umfeld einstellen. Ihre Instrumente müssen so aufgestellt und ausgerüstet sein, dass sie wirksam zur Abwehr und Bewältigung der Bedrohungen und Gefahren beitragen können.

Dafür werden im Bericht die sicherheitspolitischen Interessen und Ziele definiert und aufgezeigt, wie diese verfolgt werden sollen.

Aufgrund der Gemengelage von Bedrohungen ist dies nur im Verbund möglich. Es braucht ein enges Zusammenspiel der verschiedenen, zivilen und militärischen Mittel.

Was heisst das konkret? Wo sehe ich aufgrund der Lage und Herausforderungen sicherheitspolitische Prioritäten?

Ein erster Schwerpunkt: Wir müssen die Früherkennung von Bedrohungen und Krisen weiter verbessern.

In einem sich rasch wandelnden, unübersichtlichen Umfeld ist dies umso wichtiger, zumal auch weit entfernte Krisen rasch Auswirkungen auf die Schweiz haben können.

Wir haben hier schon einiges unternommen. Dazu gehört die personelle Verstärkung des Nachrichtendienstes, inklusive Cyberbereich, aber etwa auch die geplante Beteiligung am satellitengestützten Aufklärungssystem Frankreichs (CSO).

Ein zweiter Schwerpunkt: Wir müssen unsere Mittel und Fähigkeiten noch stärker auf «hybride» Bedrohungen ausrichten.
Das heisst, wir müssen Schutz und Widerstandkraft von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft gegenüber Phänomenen wie Cyber-angriffen, Desinformation oder Druckausübung verstärken.

Betroffen ist hier auch die Armee. Sie muss im ganzen Spektrum hybrider Bedrohungen in der Lage sein, das Land und den Luftraum, die Bevölkerung und die Infrastrukturen wirksam zu schützen und die zivilen Behörden zu unterstützen.

Mit der WEA haben wir bereits wichtige Schritte in diese Richtung gemacht. Die Einsatzbereitschaft, Ausrüstung und Ausbildung sind wesentlich verbessert worden.

Ebenso sind bei der Armee bereits substanzielle Cyber-Mittel aufgebaut worden. Diese werden wir weiter verstärken, etwa mit dem neuen Kommando Cyber und dem Ausbau der Miliz.

Den eingeschlagenen Weg gilt es konsequent weiterzuverfolgen. Die Armee muss in einem breiten Bedrohungsspektrum rasch und flexibel einsetzbar und entsprechend ausgerüstet sein.

Eine Priorität muss weiterhin die allgemeine Verstärkung des Schutzes vor Cyberbedrohungen sein.

Hier wurde in den letzten Jahren bereits einiges umgesetzt und erreicht, im VBS und in anderen Departementen. Die rasant fortschreitende Digitalisierung und die Verbreitung von künstlicher Intelligenz machen aber weitere Anstrengungen nötig.

Es geht darum, die Cyber-Resilienz in der Schweiz insgesamt zu erhöhen und dabei sowohl die Risiken wie die Chancen von Digitalisierung und neuer Technologien zu nutzen.

Ich erhoffe mir hier wertvolle Impulse durch Instrumente wie den Cyberdefence-Campus von armasuisse, der die Vernetzung mit Wissenschaft und Wirtschaft verstärken soll.

Eine weitere – und neuere – Priorität sehe ich in verstärkten Massnahmen gegen Desinformation und Beeinflussung.

Dieses Problem hat zugenommen. Es wird dann zu einer sicherheitspolitisch relevanten Bedrohung, wenn sich solche Aktivitäten gezielt gegen das Funktionieren von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft richten und diese untergraben wollen.

Es ist die Absicht, diesem Thema mehr Beachtung zu schenken und die interdepartementale Zusammenarbeit zu verstärken.

Beispielsweise soll es künftig ein systematisches Monitoring von gegen die Schweiz gerichteten, illegitimen Desinformations- und Beeinflussungsaktivitäten geben, so dass bei Bedarf zusätzliche Abwehrmassnahmen ergriffen werden können.

Ein weiterer Schwerpunkt ist für mich die Stärkung der Resilienz und Versorgungssicherheit.

Es geht darum, dass die Schweiz vorbereitet ist auf mögliche Versorgungsstörungen, die sich aus internationalen Krisen ergeben können – und damit ihre Handlungsfähigkeit wahrt.

Dies ist eine der Haupterkenntnisse aus der Covid-19-Krise. Diese hat gezeigt, wie wichtig eine krisenresistente Versorgung mit kritischen, lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen ist.

Wir müssen die Versorgungsicherheit bei kritischen Gütern verbessern und Abhängigkeiten in Bereichen, die für unser Funktionieren wesentlich sind, reduzieren.

Ich komme zu einem letzten Punkt, den ich ebenfalls für wichtig halte: die Stärkung des Schutzes vor Katastrophen und Notlagen.

Natürlich denken wir jetzt hier im Moment alle an die aktuelle Pandemie. Aber ich sehe das Thema in einem grösseren Kontext.

Mit schweren Pandemien müssen wir auch in Zukunft rechnen. Faktoren wie Klimawandel und zunehmende Siedlungsdichte werden aber dazu führen, dass Naturkatastrophen ebenfalls in Häufigkeit und Schwere zunehmen werden.

Darauf müssen wir vorbereitet sein. Wir müssen die Fähigkeiten für Schutz und Bewältigung solcher Ereignisse weiter verbessern.

Das VBS hat mit dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz schon verschiedene Schritte veranlasst, die in diese Richtung gehen.

So wird aktuell zusammen mit den Kantonen die künftige Nutzung von sanitätsdienstlichen Schutzanlagen definiert. Ein anderes Beispiel ist die Einführung von sicheren Systemen für die Kommunikation für alle Organisationen der Krisenbewältigung, wie z.B. das sichere Datenverbundsystem (SDVS).

Soweit einige Gedanken zu den sicherheitspolitischen Prioritäten, wie ich sie für die nächsten Jahre sehe.

Wie bereits gesagt, die Grundausrichtung der Sicherheitspolitik zeichnet sich durch eine gewisse Kontinuität aus.

Wir haben ein bewährtes Koordinatensystem mit Elementen wie Rechtstaatlichkeit, Einhaltung von Völkerrecht, internationaler Zusammenarbeit, Neutralität, Föderalismus und Miliz.

Dennoch muss die Sicherheitspolitik in ihrer Gesamtheit periodisch überprüft werden, im Lichte des Wandels der sicherheitspolitischen Herausforderungen.

Der Sicherheitspolitische Bericht dient uns dazu als Standortbestimmung. Aufgrund einer umfassenden Lageanalyse können wir feststellen, ob wir mit unserer Sicherheitspolitik und den Instrumenten auf Kurs sind oder ob es Anpassungen braucht.

Weil die Lage instabiler und weniger berechenbar geworden ist, brauchen wir häufiger solche Standortbestimmungen.

 Es ist deshalb meine Absicht, künftig alle vier Jahre einen Sicherheitspolitischen Bericht vorzulegen, also in jeder Legislatur.

Anpassungen an der Sicherheitspolitik braucht es immer wieder. Diese müssen aber umsichtig vorbereitet werden, denn sie müssen von Bund, Kantonen und Gemeinden getragen werden.

Damit dies gelingt, braucht es einen offenen Dialog.

Hier spielen Sie als sicherheitspolitische Expertinnen und Experten Ihrer Parteien, als Mitglieder der zuständigen parlamentarischen Kommissionen und als Mitglieder dieser Gruppe eine Schlüsselrolle.

Ich bedanke mich noch einmal, dass ich an Ihrem Gründungsanlass dabei sein kann, und freue mich auf den heutigen und auch künftigen Austausch.


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