Was der Bau einer Bergbahn in Grindelwald mit der Geschichte der Schweiz zu tun hat.

Grindelwald, 04.12.2020 - Rede von Bundeskanzler Walter Thurnherr zur Eröffnung der V-Bahn

«Welch eine Veränderung ist im Laufe dieses Jahrhunderts
über die Schweiz, und tatsächlich ganz Europa, gekommen!
Vor siebzig oder achtzig Jahren war Napoleon der einzige
Mensch in Europa, den man wirklich einen Reisenden nennen
konnte, (…), aber jetzt fährt jedermann überall hin; und die Schweiz
und viele andere Gegenden, die vor hundert Jahren unbesuchte,
unbekannte Fernen darstellten, sind in unseren Tagen allsommerlich
ein summender Bienenstock von rastlosen Fremden»
(Mark Twain, 1880)

Anrede
Sie gehören bestimmt zu jenen Leuten, die noch wissen, dass der Ausspruch, der Glaube könne Berge versetzen, aus der Bibel stammt und nicht ein Zitat ist von Mao Tse Tung, Elon Musk oder von Urs Kessler. Aber wer die Geschichte Grindelwalds kennt, die Entwicklung des Tourismus dieses Tals und die Etappen des Projekts, dessen Abschluss wir heute feiern, der könnte ohne Weiteres auf den Gedanken kommen, dass der Ausspruch über das Versetzen von Bergen in dieser Gegend hier geprägt wurde - oder dass es vielleicht Apostel Paulus, von dem das Wort stammt, von Jerusalem über Antiochia bis nach Grindelwald statt nach Griechenland verschlagen hatte. Schliesslich wurde - mindestens was den Tourismus betrifft - nirgendwo sonst in solchen Dimensionen geträumt, geplant und gebaut wie hier. Ich meine, wir alle wissen, wie innovativ die Stadtberner sind, immerhin haben sie 1957 die erste Rolltreppe der Schweiz eingeweiht. In Grindelwald haben sie sechzig Jahre früher mit dem Bau einer Bahnlinie durch den Eiger bis aufs Joch begonnen. Nirgendwo sonst in der Schweiz hat man so früh eine Luftseilbahn installiert wie in Grindelwald – die Überreste der Station Enge auf dem Weg zur Glecksteinhütte sind bis heute zu sehen. Und an keinem anderen Ort im Berner Oberland, und das werden selbst die Wengener neidlos oder fast neidlos eingestehen, konnte man so früh Skifahren, ohne dass man vorher die Skier den Berg hinaufbuckeln musste - Grindelwald war allen anderen zwanzig Jahre voraus.

Gleichzeitig sind hier schon sehr früh zum Teil heftige Diskussionen über den Tourismus ausgetragen worden: Wie viele Fremde, wie viele Hotels, später wie viele Ferienhäuser mit kalten Betten, wie viele Autos und wie viele Skilifte sind erforderlich, richtig, gerade noch zumutbar oder aber des Guten zu viel? James Joyce meinte kritisch über den Tourismus in den Ruinen von Rom, die heutigen Römer kämen ihm vor wie jemand, der damit Geld verdient, fremden Leuten die Leiche seiner Grossmutter zu zeigen. Die Grindelwaldner zeigen den Touristen zwar nicht den verblichenen Leib ihrer Grossmutter, sondern die unberührte Natur ihrer Jungfrau – womit sie dann eben nicht mehr so ganz unberührt ist. Doch trug die Diskussion über den ausgewogenen Tourismus auch hier von Anfang an Züge einer zuweilen giftigen Debatte, in der die legitime Überzeugung, die Bergwelt sei möglichst unberührt zu bewahren, heftig mit den berechtigten Wünschen nach wirtschaftlicher Entwicklung kollidierte.

Tatsächlich hatten sowohl Grindelwald im Speziellen als auch die Schweiz im Allgemeinen nie einen derartigen Wandel erfahren wie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, insbesondere im Tourismus: «In Grindelwald most of the children are beggars» hiess es noch 1860 im englischen Reiseführer. 1900 standen hier bereits 18 Hotels, sechs Jahre später waren es 30. Innerhalb weniger Jahrzehnte schuf die Schweiz das dichteste Eisenbahnnetz der Welt. Allein zwischen 1870 und 1910 wurden hierzulande rund 60 Bergbahnen gebaut, und an allen Bahnhöfen in den Alpen stiegen Touristen aus. Churchill bestieg den Monte Rosa, Roosevelt das Matterhorn - und Lenin immerhin den Sörenberg. Nichts war mehr wie früher: Oscar Wilde schlug vor, die Schweizer Gletscher rosarot einzufärben, und Tolstoi stieg in Grindelwald den Frauen nach, ohne dabei rosarot zu werden. Überall wurden Zimmer, Kuren und Touren angeboten, es wurde gebaut, gebohrt und Geld gemacht, und unter manchem Bild oder Foto dieser Jahre hätte der Kommentar von Peter von Matt stehen können, den er zum berühmten Koller-Bild der Gotthardpost gemacht hatte: «Es liegt ein beklemmender Zug in der Szene, der durch das idiotische Dastehen der Kühe noch verstärkt wird».

Auf der anderen Seite hatten die Schilderungen über diesen Wandel immer etwas Verklärendes. Je mehr Verschleiss an Kulturland die Unterländer für den wachsenden Wohlstand im Mittelland im 19. und 20. Jahrhundert hingeben mussten und auch bereit waren hinzugeben, desto mehr schien ihnen die Industrialisierung der Alpentäler und der Tourismus weiter oben in den Bergen wie ein barbarischer Einfall in ein idyllisches Reservat, in dem die mit herzigen Dialekten und verschrobenen Ansichten ausgestatteten Naturvölker gefälligst so weiterleben sollten, wie wir uns das Leben unserer Vorfahren vorstellten. Dabei ging es den Städtern nicht so sehr um den Erhalt von Bauern, Bienen und Blumen, sondern um sich selbst. Denn der Schweiz fehlte zwar der glanz- und prunkvolle Mittelpunkt, den die Länder um uns herum mit ihren Hauptstädten vorweisen konnten, aber wir hatten die Berge, die Alpentäler und viele unzugängliche Dörfer voller kräftiger Mannen und tüchtiger Frauen. Und diese Welt, oder die Vorstellung dieser Welt, wollten wir uns erhalten, wir definierten uns über sie, und wir waren und sind bis heute stolz, im Ausland als ihre Vertreter und Abkömmlinge anerkannt zu sein, auch wenn die Mehrheit von uns Schweizern seit jeher im Flachland lebte.

Mit anderen Worten: Die Diskussion über den sogenannt richtigen, den ausgewogenen Tourismus in der Schweiz ist schon deshalb kompliziert, weil sie im Kern immer wieder auf die eine Frage abzielt: Welche Schweiz wollen wir eigentlich sein? Wie und wo soll sie sich weiterentwickeln? Was ist erhaltenswert und was darf zerstört werden? Meine Damen und Herren, dafür gibt es keine Formel und keinen Algorithmus. Es gibt auch keine Klarheit und keine Kohärenz. Aber es gibt zwei hilfreiche Erfahrungen, die wir im Laufe unserer Geschichte gemacht haben, und beide haben wir auch im Verlaufe dieses Projekts gesehen:

Erstens: Die Schweiz entwickelt sich nicht von selbst weiter. Weder im Tourismus noch anderswo. Dazu braucht es immer wieder Persönlichkeiten, die die Initiative ergreifen, hartnäckig eine Idee verfolgen, andere überzeugen, Rückschläge überwinden und schliesslich eine Vision umsetzen. Vielen ist das heute wahrscheinlich nicht mehr bewusst, aber nur sieben Jahre bevor Adolf Guyer-Zeller beim Bundesrat ein Konzessionsgesuch für eine Bahn auf die Jungfrau einreichte, leistete sich die NZZ einen Aprilscherz mit einem längeren Artikel über die scheinbar absurde Idee, es sei eine Bahnlinie bis zur Jungfrau hinauf geplant. Bezeichnenderweise beginnt der Scherz mit dem Hinweis: «Jeder Berggänger hat gewiss schon die Erfahrung gemacht, dass (…) unter den Eingeborenen in den Bergen Feiglinge sozusagen gar nicht vorkommen».

Die Eingeborenen waren keine Feiglinge, und auch Guyer-Zeller war kein Feigling. Solchen Unterneh-mern verdanken wir viel. Sie wollten endlich verändern, nachdem das Land über sehr lange Zeit sehr arm war. Die Lebenserwartung Mitte des letzten Jahrhunderts betrug etwas mehr als 40 Jahre. Nabokov meinte trefflich, es sei ein urmenschliches Bedürfnis, neu zu formen, es sei denn, man sei ein Leichnam oder ein Marxist und wartete ergebenst, bis einen die Umwelt formt. Die Unternehmer der Schweiz – Adolf Guyer-Zeller, Johannes Boss (der umtriebige Hotelier von Grindelwald), Alfred E-scher, Walter Boveri, Julius Maggi - und die unzähligen anderen inzwischen vergessenen Klein- und Grossunternehmer - hatten dieses Bedürfnis nach Neugestaltung stets mit viel Opfer- und Risikobereitschaft verfolgen müssen. Natürlich wollten sie auch Geld verdienen, aber oft ging es ihnen genau so sehr darum, eine neue Vorstellung davon zu verwirklichen, wie sich ihr Tal, ihre Stadt oder ihr Land weiterentwickeln sollte. Und ohne solche Visionen würden wir heute nicht so leben, wie wir leben. Die zuweilen spürbare Attitüde gegenüber dem Unternehmertum hat deshalb längst etwas Oberflächliches und Schablonenhaftes. In Tat und Wahrheit sind Zustand und Wohlstand der Schweiz von vielen Einzelinitiativen abhängig, insbesondere von jenen der Unternehmer. Das war im 19. Jahrhundert so, und ist heute nicht anders.

Zweitens: Damit auf der anderen Seite nicht jeder seine eigene Vision verwirklichen kann, ohne dass letztere von der Allgemeinheit getragen wird, und damit eine transparente Abwägung aller Interessen stattfindet – gerade, wenn es um Bauten in der Natur geht – haben wir in den letzten 150 Jahren Verfahren und Volksrechte entwickelt, die zwar nicht unbedingt durch kurze Entscheidwege bestechen, sich aber als sehr akzeptanzfördernd und stabilisierend herausgestellt haben. Wem bewusst ist, dass am Schluss Gericht und Souverän entscheiden werden, wird sein Projekt entsprechend planen, er wird auf die betroffene Bevölkerung zugehen, wird die sich sorgenden NGO’s informieren oder einbinden. Er wird Rücksicht nehmen und die Ansichten anderer zu verstehen suchen. Dass in vielen Fällen am Schluss die Mehrheit darüber entscheidet, wo genau die Grenze zwischen Schutz und Nutzen zu liegen kommt, hilft zusätzlich, ein Bauprojekt so in die Natur einzufügen, dass es passt, nützt, verhältnismässig ist und erst noch gut ausschaut. Wir planen lang und konsultieren breit, aber danach bauen wir in kurzer Zeit.  Und letztlich wird der gewinnen, der nicht nur mit dem Geldsäckel baut, sondern auch mit Mass und Respekt. Stände hier nicht der Bundeskanzler, sondern der «Kanzler» der Dorfkirche Grindelwald, er würde wohl anfügen: Paulus hatte eben doch recht, als er in seinem Brief an die Korin-ther schrieb:

«Und wenn ich prophetisch reden könnte /
Und alle Geheimnisse wüsste /
Und alle Erkenntnisse hätte /
Wenn ich alle Glaubenskraft besässe /
Und Berge damit versetzen könnte /
Hätte aber die Liebe nicht /
Wäre ich nichts»


Meine Damen und Herren, hier in Grindelwald wurde zwar nicht ein Berg versetzt, der Eiger steht noch an derselben Stelle. Aber die Glaubenskraft hatten sie bei diesem Projekt ganz bestimmt. Es wurde mit Hingabe und unerhörtem Engagement, mit viel Sinn für Nachhaltigkeit und Liebe zum Detail eine grossartige Bahn an den Berg gebaut. Und wäre nicht dieses verrückte Virus, das jede Zusammen-kunft wie ein seltsames Antrittsverlesen von Bankräubern aussehen lässt, es würden sich hier bereits alle in den Armen liegen und behaupten, so eindrücklich, wie es heute aussieht, hätten sie sich die V-Bahn nicht in den kühnsten Träumen vorgestellt. Ich jedenfalls gratuliere herzlich den Erbauern und jenen, die zu diesem Projekt Ja gesagt haben, auch im Namen des Bundesrates, und wünsche ihnen viele Passagiere, wenig Viren, genügend weissen Schnee und keine rosaroten Gletscher.


Adresse für Rückfragen

-


Herausgeber

Bundeskanzlei
http://www.bk.admin.ch

https://www.admin.ch/content/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-81476.html