EKR - Grundrechte: Die Meinungsäusserungsfreiheit gilt, solange die Menschenwürde respektiert wird

Bern, 30.09.2019 - Darf man im Namen der Meinungsäusserungsfreiheit alles sagen? Wie können strafbare Äusserungen von nicht strafbaren unterschieden werden? Steht die Rassismusstrafnorm im Widerspruch zur Meinungsäusserungsfreiheit? Wo hört die Meinungsäusserungsfreiheit auf, wo fängt die Hassrede an? In einer Zeit, in der die Meinungsäusserungsfreiheit in den sozialen Netzwerken oft strapaziert, wenn nicht garüberstrapaziert wird, setzt sich das neue TANGRAM, das Bulletin der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR), mit diesen Fragen auseinander.

Von Anfang an wurde die Rassismusstrafnorm immer wieder mit dem Argument kritisiert, Artikel 261bis des Strafgesetzbuchs sei eine Einschränkung und eine Bedrohung für die Meinungsäusserungsfreiheit. Ist das wirklich so? Mit Beiträgen und Stellungnahmen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Recht, Politik, Geschichte und Soziologie sowie von Journalistinnen, Journalisten, Theologinnen und Theologen spürt das TANGRAM den heutigen Grenzen der Meinungsäusserungsfreiheit und den damit verbundenen Herausforderungen beim Kampf gegen Rassismus nach. Bei der Zusammenstellung dieser Ausgabe achtete die EKR auf die Vielfalt der Meinungen, was bedeutet, dass in den Beiträgen auch Positionen vertreten werden, die nicht zwingend denjenigen der Kommission entsprechen.

Die Juristin Vera Leimgruber hat in ihrer Analyse der aufgrund der Rassismusstrafnorm gefällten Urteile gezeigt, dass Artikel 261bis extrem zurückhaltend angewendet wird, und dass dem Argument der Meinungsäusserungsfreiheit in den Gerichtsurteilen immer grosses Gewicht gegeben wurde. «Meinungsäusserungsfreiheit ist [...] nicht die allumfassende Freiheit, Beliebiges zu sagen», schreibt hingegen der Strafrechtsprofessor Gerhard Fiolka. Äusserungen, welche die Menschenwürde angreifen, könnten in keinem Fall durch die Meinungsäusserungsfreiheit geschützt sein. Doch laut Gerhard Fiolka genügt das Gesetz allein nicht: «Eine staatliche symbolische Reaktion auf die Meinungsäusserungen erlaubt es, […] zu verdeutlichen, welche Äusserungen in einem demokratischen Rechtsstaat zulässig sind und welche nicht. » 

Das TANGRAM beschäftigt sich auch mit der wachsenden Problematik der Hassrede, für die das Internet den idealen Nährboden bietet. Im Netz dient die Meinungsäusserungsfreiheit häufig zur Rechtfertigung von Äusserungen gegen Minderheiten. «Was im „virtuellen“ öffentlichen Raum geschieht, hat durchaus einen Einfluss auf die Realität [...]. Auch wenn Rassismus, Mobbing und Einschüchterung über verschiedene digitale Medien aus Distanz zum Ausdruck kommen, sind ihre Folgen keineswegs abstrakt», wie Thomas Jammet und Diletta Guidi darlegen. In einem Interview drückt Françoise Tulkens, ehemalige Vizepräsidentin des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, ihre Besorgnis über die Verharmlosung der Hassrede aus: «Hassreden sind in den europäischen Ländern zu einem grossen gesellschaftlichen Problem geworden. Die Staaten müssen ihre Verantwortung mehr denn je wahrnehmen und fest auftreten [...]».

«Niemand darf das Gesetz missachten. Wer es übertritt, muss die Folgen gewärtigen. Dies ist der Preis für jede unserer Freiheiten, auch für die Meinungsäusserungsfreiheit», sagt die Präsidentin der EKR, Martine Brunschwig Graf.


Adresse für Rückfragen

Martine Brunschwig Graf, Präsidentin EKR, 079 507 38 00, martine@brunschwiggraf.ch
Sylvie Jacquat, Chefredakteurin des TANGRAM-Bulletins, 076 424 19 04, sylvie.jacquat@gs-edi.admin.ch



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