«Stärke oder Macht – der kleine aber feine Unterschied»

Luzern, 16.08.2019 - Ansprache von Bundesrat Guy Parmelin, Vorsteher des Eidgenössischen Departements für Wirtschaft, Bildung und Forschung, anlässlich der Eröffnung des Lucerne Festivals 2019

Sehr geehrter Herr Stiftungspräsident,
Sehr geehrter Herr Intendant,
Sehr geehrte Ehrengäste,

Meine Damen und Herren,

Liebe Freunde der klassischen Musik

Vielen Dank, dass Sie über mich quasi die Schweizer Regierung an der Eröffnung dieses renommierten Festivals teilhaben lassen. Ich bin, ganz wie meine Frau, ein grosser Liebhaber der klassischen Musik und freue mich deshalb besonders über diese Einladung.

Bei der Vorbereitung für meine heutige Ansprache habe ich gesehen, dass die diesjährige Ausgabe des Festivals dem Thema «Macht» gewidmet ist. Das ist natürlich sehr interessant aus musikalischer Sicht, aber auch aus politischer Sicht, worauf ich später noch zurückkommen möchte.

Sergej Rachmaninows Drittes Klavierkonzert in d-Moll, das in wenigen Augenblicken von Denis Matsuev interpretiert wird, ist ein perfektes Beispiel für «Macht». Dieses monumentale Klavierkonzert der Superlative ist ein Werk, das zugleich gefürchtet und geachtet wird, weil es so schwierig zu spielen ist. Es verlangt vom Pianisten ein ganz besonderes Talent, das Begierde, eine hohe geistige Präsenz und Heldentum miteinander vereint. Das sind genau die Eigenschaften, mit denen der grosse Vladimir Horowitz dieses mythische Werk im wahrsten Sinne des Wortes «verschlungen» hat, als er es an der Abschlussprüfung seiner Ausbildung am Konservatorium in Kiew vor rund 99 Jahren darbot.

Es war eine pure Machtdemonstration des Interpreten, aber auch ein Streben nach Macht seitens des Komponisten. Rachmaninow hat dieses Werk zwar in der idyllischen, ruhigen Umgebung seiner Sommerresidenz erschaffen, aber es steht ganz klar für seinen unersättlichen Ehrgeiz. Kaum ein Werk ist so anspruchsvoll, manche nannten es sogar teuflisch. Rachmaninow wollte damit nicht nur sein Können als Komponist, sondern auch seine Virtuosität als Pianist unter Beweis stellen. Denn diese mächtige Partitur, die an sich schon Ausdruck von Machtstreben ist, kommt fast einer Kampfansage gleich: Dieses Werk lässt sich nur von Solisten bezwingen, die selbst die Kraft haben, seine Wucht zu zähmen. Entsprechend wünsche ich Denis Matsuev viel Kraft, Kühnheit und Kampfgeist.

Natürlich gehört ein solcher Abstecher in die Kultur nicht direkt zu meinen Aufgaben als Wirtschaftsminister. Aber ich denke, Sie werden mir diesen kleinen Exkurs, auf den ich angesichts des heutigen Anlasses nicht verzichten wollte, nachsehen. Wie bereits eingangs erwähnt ist Macht nicht nur eine wichtige Triebkraft der Musik, sondern auch eine zentrale Komponente in Politik, Wirtschaft, Militär und Diplomatie, was natürlich auch den Veranstaltern des Festivals nicht entgangen ist.

Denn Macht ist unweigerlich ein Teil des Lebens. Sie gehört zum Alltag und bestimmt einen Grossteil unseres Tuns − ganz egal, wie wir handeln und wie weitreichend die Konsequenzen sind. In der heutigen Welt zeigt sich das vielleicht besser als je zuvor. Und damit meine ich nicht die Machtausübung im Sinne von Krieg oder Waffengewalt, sondern vielmehr die stillen Machtkämpfe, die heute fast alle unsere privaten und öffentlichen Beziehungen prägen.

So kann ein freundlicher Nachbar über Nacht zum erbitterten Gegner werden, ein langjähriger Partner plötzlich zum Rivalen und Unterstützung kann von heute auf morgen ins Gegenteil umschlagen. Natürlich gab es das schon immer, aber – und das werden Sie wohl ähnlich sehen wie ich – der Tonfall ist in den letzten Jahren deutlich härter und radikaler geworden. Bei der Meinungsbildung herrschen immer häufiger die Extreme vor. Trends müssen befolgt werden: Wer aus freien Stücken entscheidet, nicht mitzumachen, wird ausgeschlossen. Einschüchterung und Vergeltung setzen sich dort durch, wo früher der Kompromiss die naheliegendste Lösung war – und in unserem Land zum Glück immer noch ist. In unserem Zeitalter wird Macht vergöttert, als sei sie ein Mittel zum Zweck. Bereits Nietzsche formulierte es so: «Man will Freiheit, so lange man noch nicht die Macht hat. Hat man sie, will man Übermacht. »

Meine Damen und Herren,

In der Schweiz wird das Wort «Macht» anders verstanden als in den meisten anderen Ländern oder von den «Grossmächten» (um hier auch diesen Begriff zu verwenden). In unserem nationalen Sprachgebrauch wird das Wort «Macht» kaum verwendet, was bestimmt auf die bescheidene geografische Ausdehnung unseres Landes zurückzuführen ist. Ein weiterer Grund dafür ist aber zweifellos, dass wir seit jeher alles daransetzen, im regelmässigen Dialog zwischen Politik, Gesellschaft und Institutionen gemeinsame Lösungen zu finden, die für alle stimmig sind.

Denn wer würde bei uns schon sagen, der Bundesrat sei mächtig? Das wäre ja fast schon lächerlich. Der Bundesrat übt zwar Macht aus, aber als Kollegialbehörde, womit sich seine Macht doch um einiges von der absoluten Macht unterscheidet, die heute unser Thema ist.

Die Schweiz ist in diesem Sinne kein «mächtiges» Land, dafür aber ein starkes: Es sind unsere Innovationskraft, unsere Wettbewerbsfähigkeit, die Qualität unseres Bildungssystems, unser Verhältnis zur Arbeit und nicht zuletzt auch die Unterschiede innerhalb unseres Landes, die uns stark machen. Einer dieser Unterschiede ist etwa, dass mein Kanton, der Kanton Waadt, jeden Sommer mit dem Montreux Jazz Festival eines der weltweit grössten Musik-festivals dieses Genres organisiert, Ihr Kanton hingegen ein Festival für klassische Musik. Aber damit konkurrenzieren wir uns nicht gegenseitig, vielmehr ist jeder auf einen Musikstil spezialisiert und die beiden hochkarätigen Angebote ergänzen sich perfekt. Als Tourismus-minister kann ich mich darüber nur freuen: für Luzern, für den Kanton Waadt und für den Kulturplatz Schweiz insgesamt.

Meine Damen und Herren,

Ausser in der Mechanik oder in der Physik sind Kraft, Stärke und «Power» nicht immer das, was man sich darunter vorstellt. Es geht nicht nur um Muskelkraft, Pferdestärken oder Rechenpower. Denn genau wie in der Musik kann man diese Begriffe nicht nur auf die kräftigen Akzente des Walkürenritts oder der Ouvertüre 1812 beschränken.

Wir haben das Glück, über eine gewisse kulturelle Sensibilität zu verfügen und können uns für Kunst und Musik begeistern. Hier, bei diesem renommierten Anlass, dem Lucerne Festival, können wir diese Liebe zur Musik teilen. Wir fühlen uns verbunden und gestärkt allein durch diese eine Macht, die wirklich Bestand hat und die uns durchdringt: die Macht der Schönheit, die wir weder mit dem Ohr, noch mit dem Auge so richtig erfassen können, dafür aber mit dem Herzen.

Ich wünsche den Veranstaltern des Lucerne Festival eine gelungene Ausgabe 2019 und Ihnen allen, dass Sie daraus viel neue positive Kraft schöpfen können.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


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