Gedenkfeier "Schlacht bei Sempach vom 9. Juli 1386"

Sempach, 30.06.2019 - Sempach, 30.06.2019 - Rede von Bundesrat Ignazio Cassis - Es gilt das gesprochene Wort

Gemeinschaftssinn und Solidarität

Sehr geehrter Herr Regierungspräsident Robert Küng
Sehr geehrte Herr Kantonsratspräsident Josef Wyss
Geschätzte Vertreterinnen und Vertreter von Regierung, Kantons- und Stadtrat
Sehr geehrte Damen und Herren aus Politik, Kirche, Wirtschaft und Armee
Liebe Festgemeinde

Lassen Sie mich zuerst einem äusserst verdienten Parteikollegen, Herrn Robert Küng danken für seine langjährige Arbeit als Regierungspräsident des Kantons Luzern. Der heutige Sonntag markiert nicht nur die Schlachtjahrzeit, sondern auch das Ende seiner Amtszeit.
Im Gegensatz zu 1386, als die Berner keine Truppen nach Sempach entsandten, bin ich jedoch heute hier als Vertreter der Eidgenossenschaft, um Sie, Herr Küng, zu beglückwünschen. Vielen Dank!

Herzlichen Dank auch für die ehrenvolle Einladung zum 633. Gedenktag der Schlacht bei Sempach, der entscheidenden militärischen Auseinandersetzung zwischen der werdenden Eidgenossenschaft und der Herrschaft Österreich. Nachdem Sie letztes Jahr mit Frau Botschafterin Ursula Plassnik bei den damaligen – verzeihen Sie den Ausdruck – «Feinden» um eine Ansprache ersuchten, freut es mich besonders, dieses Jahr den Bundesrat zu vertreten. Wohlwissend, dass die Damen und Herren «de la Berne Fédérale» auch nicht immer als Freunde angesehen werden.

Zum Sinn der Geschichte

Sehr verehrte Damen und Herren, liebe Kinder und Jugendliche

Dank Ihnen verschwindet diese wichtige Tradition nicht aus unserem Bewusstsein. So manch eine und einer entdeckt den Wert der Geschichte - und damit auch von historischen Feierlichkeiten - erst mit dem Anhäufen eigener Lebensjahre und damit eigener Geschichte. Der Mensch braucht diese Identifikation mit der Vergangenheit, sie dient uns als Orientierung. Historisches erlaubt uns als Gesellschaft eine Verortung. Ja! Tradition kann uns als Kompass in unsicheren Zeiten dienen. Historisches wird von jeder Generation neu und eigenständig – den aktuellen Umständen entsprechend – beurteilt. Was 1886 oder beispielsweise vor dreissig Jahren als gut und ordentlich angesehen wurde, gilt heute als veraltet.

Der ehemalige Tessiner Aussenminister, alt-Bundesrat Giuseppe Motta (BR 1911-1940), hielt in Sempach im Jahre 1936 – nebenbei knapp 4 Jahre vor seinem Tod - anlässlich der 550. Schlachtjahrzeit eine Rede, welche mit gutem Recht noch um einiges martialischer klang, als dies heute üblich ist: «Die Regierungen und die Generalstäbe des Auslandes müssen die klare Überzeugung bekommen, dass jeder Versuch, unser Gebiet zu verletzen und es zu strategischen Durchmärschen gegen den Feind zu missbrauchen, auf den äussersten nie erlahmenden Widerstand unseres Heeres stossen würde. Da gibt es unter Eidgenossen – ob deutsch oder welsch – keinen Streit der Auffassungen: Lieber in Ehre verbluten und untergehen als in irgend einer Form von Knechtschaft leben!»

Politische Diskurse sind auch immer «Kinder ihrer Zeit». Martialische Schlachtjahrzeiten – dies scheint uns aus heutiger Perspektive tatsächlich unpässlich. Unsere aktuellen Lebensumstände erlauben uns dies: Die Schweiz hat nie vorher während so vieler Jahre in Frieden gelebt wie heute. Die Halbarteneisen drohen aus dem kollektiven Gedächtnis zu verschwinden. Vergessen wir darüber zweierlei nicht: Demut und Dankbarkeit. Wir brauchen uns innerhalb Europas nicht mehr die Schädel einzuschlagen. Es ist nach wie vor ein politischer Kampf – heute aber zum Glück meist ein Kampf der Worte und Ideen. Diesen Fortschritt gilt es zu wahren!

Winkelried

Sie werden den alten Spruch kennen: Was hat die mythische Figur des Winkelried kurz vor seiner aufopferungsvollen Tat wohl gesagt? «Sorget für mein Weib und Kind» oder doch eher, wie ein Spruch auf Französisch vorschlägt «quel est le salaud qui m’a poussé?» Ehrlich gesagt: Spielt das eine Rolle? Nein! Wichtig für die werdende und unsere heutige Schweiz war und ist die Signalwirkung. Dieses Signal, die «Winkelriedstat» – das Opfer eines einzelnen Individuums dem Gemeinwohl wegen – war wichtig, um unsere eigene Identität zu definieren.

Um zusammenzuwachsen mussten unsere Vorfahren ihr eigenes Ego drastisch zurücknehmen. Und das gilt - in meinen Augen - immer noch.
Jede (Sprach-)Region dieses Landes liegt - für sich genommen - eigentlich unterhalb der kritischen Grösse. Aus diesem Grund haben wir erst recht immer wieder Identitätsstiftendes nötig. So wachsen in einem Land – ohne gemeinsame Sprache, mit unterschiedlichen Religionen und auch unterschiedlichen Kulturen – unsere heutigen schweizerischen Traditionen.

Winkelried mag nicht real sein – als Symbol für Brüderlichkeit und auch Opferbereitschaft ist er allemal legitim! Wir können diese beiden Begriffe dem heutigen Zeitgeist anpassen und von «Gemeinschaftssinn» und «Solidarität» sprechen. Ebenfalls traditionelle Werte der schweizerischen (Aussen-)politik, welche an den ehemaligen Aussenminister alt-Bundesrat Max Petitpierre und seine aussenpolitische Maxime der «Neutralität», «Solidarität» und «Universalität» erinnern. Wobei dieses Triplet auch problemlos für die Innenpolitik seine Gültigkeit hat.

Sempach, 9. Juli 1386

Ich war während meinen Vorbereitungen ein wenig überrascht über die teils unklare Faktenlage der Schlacht bei Sempach. So schrieb der Basler Historiker Guy Paul Marchal, welcher gerade in Luzern grosse Spuren hinterlassen hat, dass die Fakten- und die Quellenlage betreffend Sempach äusserst ungünstig sei. Und dieses Fazit zieht sich mehr oder minder durch die Literatur zum Thema durch. Mehr oder minder deswegen, weil einige Wenige dachten, die Wahrheit für sich gepachtet zu haben, um sogleich von anderen aufgrund unterschiedlich studierter Quellen wieder vom «Thron» gestossen zu werden.

Meine Damen und Herren: es ist ein wenig wie in der Aussenpolitik: Alle wissen wie es ginge, aber leider nicht im Voraus. Wir können uns immerhin ziemlich gut vorstellen, wie die Welt war, in der es zur Schlacht bei Sempach kam. Das ausgehende 14. Jahrhundert war für die heutige Gesellschaft beinahe unvorstellbar entbehrungsreich:
- Knapp vierzig Jahre zuvor erreichte die erste grosse Pestwelle mit einer brutalen Mortalitätsrate das Gebiet der heutigen Schweiz
- Es gab keine oder kaum medizinische Versorgung
- Sowie kaum hygienische Vorrichtungen
- Bittere Kälte auch innerhalb der Mauern während Monaten
- Keine technischen Hilfsmittel, um die Felder bestellen zu können
- Ungleich tiefere Lebenserwartung – durchschnittlich knapp 30 Jahre

Fakt ist aber auch, dass sich in Sempach die Achtörtige Eidgenossenschaft gegen ein zahlenmässig und ausrüstungstechnisch überlegenes Heer - und aus geographisch benachteiligtem Standort heraus - durchgesetzt hat. Sie traten gegen den damals wohl mächtigsten südwesteuropäischen Territorialherrn Leopold III. an und wendeten ihr Schlachtenglück – trotz anfänglich wenig Fortune – zu ihren Gunsten.

Ja, die Achtörtige Eidgenossenschaft «widersprach» gar Sun Tsu! Der chinesische Militärstratege und Philosoph gab nämlich in seinem bis zum heutigen Tag bedeutenden Werk «Die Kunst des Krieges» zum Besten: «Es ist ein militärischer Grundsatz, nicht bergauf gegen den Feind anzutreten und ihm nicht gegenüberzutreten, wenn er bergab kommt.»  Da hat Sun Tsu seine sicherlich wohlüberlegte Rechnung ohne das Wissen um die eidgenössischen Halbarteneisen gemacht! Sie machten diese zahlreichen Nachteile unter anderem durch die uns bereits bekannten Begriffe wett: Gemeinschaftssinn und Solidarität.
 
Die wechselhafte Beziehung zu unserer Nachbarschaft

Liebe Festgemeinde

Geschichte wiederholt sich nicht. Aber sie ist das Modellbuch für die Bewältigung der Zukunft. Klar, heute gedenken wir. Aber lassen Sie uns auch Kraft für die Zukunft daraus schöpfen. Kraft, für die ideologischen «Gefechte» von morgen. Wir wollen aktiv mitgestalten. Nur: So ganz alleine geht das nicht. Und ging es auch noch nie.

Stellen Sie sich den Flickenteppich, aus dem Europa hervorging – zur Zeit von Sempach vor. Kaiser, Könige, Fürsten, Klöster und Gemeinden – alle mussten sie andauernd Bündnisse abschliessen. Mit direkten Nachbarn oder mit weiter entfernten Entitäten. Bündnisse schufen Sicherheit. Zumindest bis sie plötzlich einseitig nicht mehr beachtet wurden. Hier sind wir heute zum Glück meist etwas weiter und zollen getätigten Unterschriften den nötigen Respekt. Pacta sunt servanda!

Die Schweiz war damals (und teilweise noch heute!) eine Schicksalsgemeinschaft. All diese Abkommen haben zum Werden der heutigen Schweiz beigetragen. Sempach spielt seine ganz eigene, monumental wichtige Rolle dabei: Nach dem Sieg im Jahre 1386 eroberten die Eidgenossen den Aargau. Dies führte 1415 zu einer massgeblichen Festigung der eidgenössischen Herrschaft. Im Unterscheid zu früher, teilten die Eidgenossen jedoch diese neuen Gebiete nicht unter sich auf. Vielmehr wurden die neuen Gebiete kollektiv verwaltet.

Liebe Festgemeinde – dies war ein einschneidender und entscheidender Schritt im Werden der Schweiz! Ich gebe gerne zu: Die Situation ist heute unterschiedlich. Wir brauchen nur an die eben erwähnten zahlreichen Entbehrungen zu denken, welche uns heute fremd sind. Aber neu ist die Situation nicht. Gerade wenn wir uns die Geschichte, wie vorgeschlagen, als Modellbuch vor Augen halten.

Auch heute existiert die Schweiz in einem Konstrukt aus zahlreichen Abkommen mit weit entfernt liegenden Ländern sowie unseren Nachbarstaaten. Und das ist (über)lebensnotwendig. Wir profitieren heute ebenso von diversen Bündnissen und dürfen auf der anderen Seite auch die Verantwortung, die damit einhergeht, nicht vergessen oder vernachlässigen. Wobei wir zum dritten Mal auf das mittlerweile vertraute Begriffspaar stossen: Gemeinschaftssinn und Solidarität!

Die Schweiz – heute ein eigenständiger Rechtsstaat, geschätzt, im Dienste der Gemeinschaft, dem Gemeinwohl Rechnung tragend, häufige Vermittlerin in brenzligen Situationen, Gastgeberin internationaler Institutionen und: mitten in Europa!

Meine Damen und Herren, liebe Kinder und Jugendliche

Lassen Sie mich den in Bern lehrenden Historiker André Holenstein aus seinem Buch «Mitten in Europa» zitieren, indem er auch auf die einzelnen Verflechtungen und Abgrenzungen der Schweizer Geschichte eingeht: «Schweizergeschichte […] ist die Geschichte eines Raumes, der sich im Austausch und in steter Auseinandersetzung mit seinem räumlichen Umfeld nach und nach als Staat territorial abgrenzte und sich seiner besonderen Identität sowie seiner engen Grenzen bewusst wurde. Warum es die Schweiz gibt und wie sie zu dem wurde, was sie ist, erschliesst sich nur, wenn die Beziehungen dieses Raums zum weiteren Umfeld in Betracht gezogen werden.» 

Fazit

Die Schlacht bei Sempach am 9. Juli 1386 ist Teil des roten Fadens, der zum Werden unserer heutigen Schweiz beitrug. Dank früherer Generationen ist es in der Schweiz heute möglich, in Frieden zu leben. Lassen Sie uns daraus Kraft schöpfen, um das auch den nächsten Generationen zu ermöglichen und unseren Teil dazu beizutragen. Vergessen wir im täglichen Miteinander nicht, wie wir geworden sind, was wir sind: Gemeinschaftssinn und Solidarität – Demut und Dankbarkeit.

Ich wünsche Ihnen allen einen wunderbaren und würdigen Sonntag und bedanke mich herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.


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