“Gesundheitspolitik als Wachstumsmotor der Schweiz?“

Petersinsel, 29.08.2006 - Rede von Herrn Bundesrat Pascal Couchepin - Es gilt das gesprochene Wort

Sehr geehrte Damen und Herren

Für den diesjährigen Petersinselausflug habe ich mich entschieden, grundlegende Gedanken über die Zukunft des Gesundheitswesens zu machen. Wie Sie sehen werden, geht es mir darum, das Gesundheitswesen längerfristig und teilweise aus einer weniger bekannten Perspektive zu beurteilen.

Warum über das zukünftige Gesundheitswesen sprechen? Weil ich überzeugt bin, dass der derzeitige „discours ambiant“ den Zukunftsperspektiven des Gesundheitswesens nicht gerecht wird. Nach meiner intensiven Arbeit sozusagen als Feuerwehrmann, rasch Verbesserungen für alle Prämienzahler zu erreichen, will ich heute den Akzent auf die langfristigen Herausforderungen des Gesundheitswesens legen.

Kurz- und mittelfristige Massnahmen

Über was diskutieren wir zur Zeit? Über die Kostensteigerungen jedes Jahr. Über mögliche Sparmassnahmen. Dabei sind sich im Prinzip alle über das zu erreichende Ziel einig: „Die Kostenzunahme soll sich verlangsamen. Das Kostenwachstum aber ganz abbremsen oder auf Null senken ist unmöglich.“

Unsere Massnahmen zeigen nach und nach Wirkung. Es scheint, dass sich die Prämienerhöhung dieses Jahr auf ca. 3% begrenzen wird. Das wäre die geringste Zunahme seit Einführung des KVG.

Auf Stufe des Eidgenössischen Departements des Innern (EDI) und des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) wurden von Mitte 2005 bis Mitte 2006 neben der Senkung der Mindestreserven für die Krankenkassen Massnahmen beschlossen, mit denen die Kosten zu Lasten der obligatorischen Grundversicherung und damit auch die Prämien gesenkt werden:

• Komplementärmedizinische Leistungen: Seit 1.7.2005 werden fünf komplementärmedizinische Leistungen nicht mehr von der Grundversicherung bezahlt. Der Spareffekt beträgt 80 Millionen Franken.

• Senkung des Taxpunktwertes bei Laboranalysen: Auf den 1.1. 2006 senkte das EDI den Taxpuntkwert für alle Laboruntersuchungen, die in der Analysteliste aufgeführt sind, von 1 Franken auf 90 Rappen. Der Spareffekt beträgt rund rund 60 Millionen Franken.

• Senkung des Höchstvergütungsbetrages bei Mitteln und Gegenständen: Auf den 1.1.2006 senkte das EDI den Maximalbetrag, der bei medizinischen Hilfsmitteln von der Grundversicherung vergütet wird um 10 Prozent. Der Spareffekt beträgt rund 26 Millionen Franken.

• Erhöhung des Selbstbehalts für Originalpräparate zur Förderung von Generika: Seit 1.1.2006 wird auf Originalpräparaten, zu denen ein Generikum besteht, ein Selbstbehalt von 20 Prozent erhoben. Beim Generikum beträgt diese nach wie vor 10 Prozent. Der Spareffekt ist noch nicht definitiv bezifferbar, die Wirkung ist aber laut Experten bedeutend. Er könnte gegen 300 Millionen betragen.

• Preissenkungen von Medikamenten (Vereinbarung mit Industrie): Die Preise von allen Originalpräparaten, welche die Grundversicherung bezahlt und deren Patent abgelaufen ist, wurden bis zum 1. Juli 2006 gesenkt. Gemäss letzten Angaben von Interpharma wurden bis am 1. Juli rund 400 Medikamente, die aus der Grundversicherung bezahlt werden, um durchschnittlich 30 Prozent gesenkt. Der Spareffekt ist mindestens 250 Millionen Franken auf ein Jahr gerechnet.

Die Wirkung der Massnahmen wird von einem Monitoring verfolgt. Ich will, dass alle Daten möglichst rasch allen zu Verfügung stehen, damit bei Bedarf auch sehr rasch korrigiert werden kann. Zudem steigert dieses Instrument die Transparenz. Es wird aufgezeigt, wer und was die Kostentreiber sind.

Das Parlament ist daran, die Gesetzesvorlagen zu verwirklichen. Zur Zeit werden die Spitalvorlage, die Pflegefinanzierung und die managed-care-Vorlage behandelt. Ich hoffe sehr, dass das Parlament rasch vorankommt.

Langfristige Zukunftsaussichten

Vergessen darf man aber in dieser Diskussion nicht, zehn oder zwanzig Jahre voraus zu denken. Nimmt man sich diese Mühe, so wird zweierlei ersichtlich:

Erstens: Die immer grössere Wichtigkeit des Gesundheitswesens im Herzen der Menschen. Gesundheit wird als „machbar“ angeschaut. Immer mehr Menschen tun immer mehr, um gesund zu bleiben. „Gesund sein und sich gesund fühlen“ wird ein zentraler Wert der Lebensführung.

Zweitens: Würde die Kostenzunahme der vergangenen Jahrzehnte über die nächsten Jahrzehnte fortgeführt, würde dies zu einem Kollaps des Systems führen.

Widersprechen sich diese beiden Entwicklungsziele? Nicht zwingend. Es ist an der Politik, einerseits dafür zu sorgen, dass dem gesellschaftlichen Wandel Rechnung getragen wird, andererseits aber auch, dass das Gesundheitssystem bezahlbar bleibt.

Das Gesundheitswesen als Wirtschaftsfaktor

Aus dieser Perspektive rückt ein anderer Aspekt in den Vordergrund, der gewisse Lösungsmöglichkeiten aufzeichnen kann. Das Gesundheitswesen ist nämlich nicht nur einfach Kostenfaktor. Es sorgt auch für Wirtschaftswachstum, Arbeitsplätze, Innovationsschübe.

Wie Sie nun gleich hören werden, gehen gewisse Voraussagen sogar in die Richtung, dass das Gesundheitswesen der grosse Wachstumsmotor der Zukunft sein wird. Nur schon die Tatsache des bevorstehenden demographischen Wandels gibt dieser These eine gewisse Plausiblität.

Wenn dem aber so wäre, und davon gehe ich aus, müssten die Grundpfeiler einer langfristigen Gesundheitspolitik dieser Perspektive Rechnung tragen. Aus diesem Grund habe ich als Grundlage die heute hier vorgestellte Studie machen lassen.

Ergebnisse der Studie

Was sind die politisch relevanten Hauptergebnisse der Studie? Das Gesundheitswesen ist effektiv eine Wachstumsbranche. Das zeigen die vorgelegten Zahlen. Immer mehr Menschen arbeiten in diesem Sektor. Und der Innovationsschub in gewissen Bereichen ist beträchtlich.

Richtigerweise stellt die Studie fest, dass neben dem traditionellen Gesundheitsmarkt, der eigentlich auch als „Krankheitsmarkt“ bezeichnet werden kann, sich ein neuer Markt entwickelt, nämlich der präventive Gesundheitsmarkt. Dies hängt wiederum damit zusammen, dass die Menschen heute vermehrt glauben, dass Gesundheit „machbar“ ist und so bereit sind, etwas dafür zu tun.

Was muss politisch getan werden?

Die Schweiz hat sich zu rüsten, damit sie im globalen Umfeld über ein wettbewerbsfähiges Gesundheitswesen verfügt, das Spitzenleistungen erfüllt.

Soll nun der neue Gesundheitsmarkt, der expandierende präventive Gesundheitsmarkt, auch via Prämien in die Grundversicherung einfliessen? Das kann sicher nicht vollumfänglich der Fall sein. Erstens würden die Prämien in einem solchen Fall markant ansteigen. Und zweitens, das ist noch wichtiger, entwickelt sich dieser neue Gesundheitsmarkt über staatliche Fesseln sicher weniger dynamisch als wenn er über den (privaten) Markt gesteuert wird.

Der Staat soll und darf aber die Eigenverantwortung in diesem Bereich fördern. Er soll, und er macht dies ja heute schon, informieren und aufklären. Er soll aber nicht moralisieren. Das würde nämlich den gegenteiligen Effekt, gerade bei Jugendlichen, auslösen. Er soll sachte darauf hinweisen, dass ein gesünderes Leben ein längeres Leben ermöglicht.

Wir müssen aber grundsätzlich dafür sorgen, dass der „Gesundheitsstandort Schweiz“ attraktiv ist und bleibt. Wir können und sollen dafür sorgen, dass Wettbewerb und Kooperationen, wo überall möglich, dazu führen, dass wir Spitzenleistungen erbringen.

Falls sich der Gesundheitsmarkt effektiv weiter zu einem Wachstumsmarkt entwickelt, wollen wir daran teilnehmen. Wir müssen unsere guten Voraussetzungen hierzu nutzen.

Neue Fragestellungen

Wenn es einen Paradigmenwechsel in der Gesundheitspolitik braucht, welches sind dann die neuen Parameter?

Erstens: Das Gesundheitswesen ist als Netzwerk zu betrachten. Man darf die Sicht keinesfalls nur auf den nationalstaatlichen Krankheitsmarkt beschränken.

Das heisst zweitens der Tatsache Rechnung tragen, dass die Gesundheit in den Köpfen der Menschen heute einen anderen Stellenwert hat. Viele sind bereit, „präventiv“ vorzusorgen. Diese gesellschaftliche Entwicklung ist zu akzeptieren und die entsprechenden Folgerungen müssen daraus gezogen werden.

Das heisst drittens, Gesundheit vermehrt als Wachstumsmotor und nicht lediglich als Kostenfaktor zu betrachten.

Das heisst aber auch viertens, dass die Prämien trotzdem nicht ins Unendliche steigen dürfen. Umso mehr ist genau zu überlegen, was zur solidarischen Grundversicherung gehört und was nicht.

Fünftens sind die Effizienzgewinne zu nutzen, um gewisse Kosten zu senken. Analog der Autobranche im frühen 20. Jahrhundert oder der Computerbranche in jüngerer Zeit, ist dafür zu sorgen, dass durch den technischen Fortschritt die Kosten bei gleich bleibendem Standard sinken.

Wollen wir das Gesundheitswesen als Wachstumsmotor?

Ich glaube, dass es Sinn macht, die Gesundheitsanstrengungen in einem positiven Licht zu sehen. „Gesundheitsberufe“ sind denn auch wertvolle und schöne „métiers“. Wir werden morgen insbesondere auch wegen der demographischen Entwicklung zudem immer mehr Menschen brauchen, die in diesem Sektor arbeiten.

Der technologische Fortschritt ist zudem für alle gut. Die Chancen desselben sollen allen zu Gute kommen.  Und auch die Solidarität zwischen Kranken und (noch) Gesunden ist eine grosse zivilisatorische Leistung, die niemand missen möchte.

Zukünftige schwierige Fragen

Wenn man die vorliegende Analyse aber akzeptiert, ist ersichtlich, dass sich in Zukunft zusätzliche schwierige Fragestellungen stellen:
1. Soll, und wenn ja, wie soll der Gesundheitsstandort Schweiz gefördert werden? Macht eine spezifische „Branchenpolitik“ analog der ehemaligen „Industriepolitik“ Sinn?
2. Wie gehen wir damit um, dass der Krankheitsmarkt und der präventive Gesundheitsmarkt immer weiter ineinander greifen? Wo ist Solidarität notwendig, wo beginnt die Eigenverantwortung?
3. Wie gehen wir damit um, dass das Gesundheitsbewusstsein und –verhalten bei den Menschen sehr unterschiedlich ist und anscheinend häufig entlang sozialen und soziologisch erklärbaren Kriterien verläuft? Wie sorgen wir dafür, dass nicht ein Graben zwischen privilegierten und weniger privilegierten Menschen entsteht?

Bisherige Politik gibt schon Antworten

Indem ich veranlasst habe, dass der „Krankheitsmarkt „ (d.h. alles, was zum KVG gehört) dem Bundesamt für Gesundheit, dem Amt für die öffentliche Gesundheit, angegliedert wurde, habe ich schon früh den Anstoss zu einem umfassenden Verständnis von Gesundheit gegeben.

Indem ich aber etwa nicht alle Gesundheitsleistungen, wie Teile der Komplementärmedizin oder sämtliche psychischen „Healthstyle“- Produkte oder –Dienstleistungen, unter die Obhut des KVG stellen will, trage ich dem Rechnung, dass es unmöglich ist, das Gesundheitswesen mit allem Möglichen zu „belasten“. Solidarität und Eigenverantwortung müssen, wie gesagt, in der richtigen Balance bleiben.

Schlussfolgerungen/ Zukunftsaussichten

Und dann geht es schliesslich bei den nun diskutierten Fragestellungen auch um eine ethische, für mich sehr relevante Frage: Ist es wünschbar, dass sich dieser Gesundheitstrend sozusagen als „Megatrend“ verselbständigt?

Besteht nicht die Gefahr, dass „Krankheit“ umso mehr stigmatisiert wird? Kommt die Zeit, wo Menschen mit „Schönheitsfehlern“ oder Behinderungen fast schuldig sind, da sie sich nicht um die notwendigen chirurgischen oder sogar pränatalen „Korrekturen“ kümmern? Eine solche Entwicklung muss auf jeden Fall verhindert werden.

Die heutigen Tendenzen des Gesundheitsmarkts sind zu analysieren und zu beobachten. Es ist ganz pragmatisch dafür zu sorgen, dass der „Gesundheitsstandort Schweiz“ dynamisch, erfolgreich und zukunftsgerichtet bleibt und sich positiv weiterentwickeln kann.



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